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Auslöschung auf Netflix: Was bedeutet der SciFi-Horrorfilm?
Auslöschung von Alex Garland ist aktuell auf Netflix verfügbar. Die Buchverfilmung ließ das Publikum teilweise ratlos zurück. Das Netz ergeht sich seit der Veröffentlichung in wilden Diskussionen und Interpretationen zur Handlung. Wir klären, was wirklich hinter dem Film und seinem Ende steckt.
Eines ist sicher: Wer sich erst einmal auf diesen Film eingelassen hat, wird danach nicht mehr derselbe sein.
In der Raumfahrt ist die Selbstzerstörung fester Bestandteil des maschinellen Sicherheitssystems einer Rakete. Wenn es nach Regisseur Alex Garland (Sunshine, Ex Machina) geht, steht die Menschheit der Maschine diesbezüglich allerdings in nichts nach. Wie es aussieht, wenn Menschenleben sich selbst zerstören, das erzählt der Brite in seinem neuen Science Fiction-Film Auslöschung in schockierend schönen Bildern.
Achtung, es folgen Spoiler zur Handlung von Auslöschung!
Die Auslöschung eines Kinoerlebnisses
Schon lange vor seiner Veröffentlichung ist der Film mit Hollywoodstar Natalie Portman in der Hauptrolle berühmt-berüchtigt. Auslöschung (engl. Annihilation) beruht auf dem ersten Roman der Southern Reach-Trilogie des US-amerikanischen Fantasy-Autors Jeff VanderMeer. Dabei handelt es sich um anspruchsvolle und komplizierte Genre-Kost, die sich inhaltlich zwischen magischem Realismus, Sci-Fi und Horror bewegt.
Paramount Pictures verfilmte den ersten Teil auf Basis der Drehbuchadaption von Regisseur Alex Garland. Garland, der VanderMeers Werk bereits ein „seltsames, metaphysisches, halluzinogenes Atmosphären-Stück” nannte, leistete ganze Arbeit.
Ob es ein Sequel geben wird, ist derzeit noch nicht klar. Hauptdarstellerin Natalie Portman gab in einem Interview an, dass diese Entscheidung von der Rezeption des ersten Teils abhängig sei. Sollte es einen zweiten Teil geben, wird er allerdings definitiv ohne Alex Garland an Bord in Produktion gehen.
Der äußerte sich auf die wiederholte Frage nach einer Fortsetzung alles andere als ambivalent:
Ich habe bereits unmissverständlich klargemacht, dass ich nicht in ein Franchise involviert sein will. Nach drei Jahren Arbeit an einem Film ist das Letzte, was ich tun will, noch länger in dieser Welt zu bleiben, ganz zu schweigen davon, eine weitere Version von ihr zu produzieren.
Abhängig von Garland machte sich Paramount Pictures nicht. 40 Millionen US-Dollar investierte man in die Produktion. Eigentlich wollte man damit einen möglichst einzigartigen Kinoknüller zustande bringen.
Doch dann die große Ernüchterung: Erste Screenings ließen dem Test-Publikum die Haare zu Berge stehen. Natalie Portman wirkte auf die Zuschauer unsympathisch, die Story und das Ende wie ein Buch mit sieben SciFi-Siegeln. Zu intellektuell, „zu kompliziert für die große Leinwand”, schlussfolgerte Produzent David Ellison. Er versuchte, Änderungen durchzusetzen, die den Film massentauglicher und Portman sympathischer wirken lassen sollten.
Produzent Scott Rudin hingegen war ganz anderer Meinung: Er verteidigte die Leinwandvision von Ex-Machina-Regisseur Alex Garland. Paramount Pictures beließ den Film zwar in der originalen Fassung, entschied sich aber dagegen, Auslöschung weltweit in die Kinos zu bringen. Man witterte ein buchstäblich selbstzerstörerisches Einspiel-Fiasko.
Ein überraschender Deal kam stattdessen mit der Entertainment-Plattform Netflix zustande: 17 Tage nach Kinostart in Amerika ist der Film international dort erhältlich.
Auslöschung: Die Handlung
Dabei stellt sich die Ausgangssituation von Auslöschung anfangs nicht eben hochgradig kompliziert dar: Biologie-Professorin Lena (Natalie Portman) lebt wie in einem Vakuum der Trauer, seitdem ihr Ehemann Kane (Oscar Isaac) von einem militärischen Geheimeinsatz seit einem Jahr nicht mehr zurückgekehrt ist. Lena wähnt Kane bereits tot, aber wie aus heiterem Himmel taucht der plötzlich wieder zu Hause auf - doch er scheint nicht mehr derselbe zu sein.
Plötzlich wird Kane auch noch schwer krank, doch keiner weiß Rat.
Entschlossen begibt sich Lena auf das Gelände der Geheimorganisation Southern Reach, die für Kanes Einsatz verantwortlich war. Dort erfährt sie, dass ihr Mann sich in eine geheimnisvolle Gefahrenzone begeben hat und er der Einzige war, der jemals wieder aus ihr zurückgekehrt ist.
Die sogenannte Area X entstand vor drei Jahren nach dem Einschlag eines unbekannten Objekts in einen Leuchtturm. Seitdem breitet sich der sogenannte Schimmer immer weiter über das Land aus. Er besteht aus einem seifenblasenartigen Schleier. Was sich dahinter verbirgt, weiß niemand - auch der todkranke Kane nicht mehr.
Lena entschließt sich, zusammen mit vier weiteren Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen den Schimmer zu erforschen, um herauszufinden, was mit Kane passiert sein könnte.
Hinter dem regenbogenfarbenen transparenten Schleier erwartet sie ein mysteriöses Biotop, in dem natürliche Gesetze und Ordnungen außer Gefecht gesetzt scheinen. Der Schimmer wirkt wie eine Art Prisma auf seine Umwelt, der sämtliche DNA-Materie auf absurde Art und Weise bricht, zerstört, verschmelzt und neu kombiniert. Schon bald spüren auch die Expeditionsteilnehmerinnen, wie der Schimmer sich körperlich und mental auf sie auswirkt…
Wie gut kennst du Natalie Portman? Unser Quiz
Welche dieser Sprachen beherrscht Natalie Portman?
Portman wurde in Israel geboren und spricht Hebräisch.
Genauso vertrackt wie mother!
Freuden fürs Auge, Futter fürs Hirn - Alex Garlands zweistündiges SciFi-Abenteuer setzt Maßstäbe und wird wohl künftig des häufigeren als Referenz herangezogen werden. Drehbuchautor Garland erzählt seine sensible Geschichte vor allem zwischen den Zeilen seines vielschichtigen Drehbuchs, was vor lauter Metaphern und Symbolen nur so strotzt.
Vor allem im Social Web wird über die Bedeutung des SciFi-Werkes heftig diskutiert. Weshalb dieser Umstand nicht unbedingt heißen muss, dass der Film ein kommerzieller Erfolg wird, zeigt das Beispiel von Darren Aronofskys mother! aus dem Vorjahr.
Die komplizierte und eskalationsreiche Allegorie auf Umwelt, Religion und eine narzisstische Beziehung floppte gnadenlos an den Kinokassen. Nicht zuletzt darum, weil mehr zwischen den Zeilen stand, als das breite Kinopublikum sich zu Gemüte zu führen wollte.
Auch Annihilation ist alles andere als unterhaltendes Popcorn-Kino. Garlands scheinbare Prämisse: Alles, was ungesagt bleiben kann, bleibt auch ungesagt. Kein Wunder, dass der Film im Kopf wurmt und Wurzeln schlägt. Nicht jedem Kinogänger gefällt das.
Die Selbstzerstörung in unserer DNA
„Wir alle hier sind beschädigte Ware”, stellt Expeditionsmitglied Cassie Sheppard (Tuva Novotny) fest, als die Mission der fünf Frauen beginnt. Beinahe der einzige Satz, der auf das grundlegende Thema von Auslöschung deutlich hinweist. Tatsächlich handelt es sich bei der Tragik der menschlichen Selbstzerstörung um die einzige Bedeutung, die Alex Garland bisher öffentlich bestätigte. In Auslöschung zieht sie sich genauso durch die Ehe der Hauptfigur Lena, wie auch durch die diesigen Wälder der Area X und bis tief hinein in die Psyche und die Körper der forschenden Frauen.
Unter ihnen findet sich keine, die nicht akutes Leid durch selbstzerstörerisches Verhalten zu verarbeiten versucht: Rettungssanitäterin Anya (Gina Rodriguez) kämpft mit Alkoholismus, Physikerin Josie (Tessa Thompson) trägt meist lange Ärmel um die Narben ihrer Suizidversuche zu verbergen.
Biologin Lena plagen tiefste Schuldgefühle: Sie hat ihren Ehemann zuvor mit einem Kollegen betrogen - der Grund, warum er sich auf die Area X-Mission überhaupt einließ. Lena ist auf der Suche nach Erlösung, nach Schuldbegleichung. Geologin Cassie Sheppard (Tuva Novotny) hat ihre Tochter an Leukämie verloren und Psychologin Dr. Ventress (Jennifer Jason Leigh) leidet an Krebs.
Regisseur Alex Garland erklärte in einem Interview mit The Ringer:
Es geht um die Art und Weise, wie wir uns selbstzerstörerisch verhalten - manchmal sehr versteckt, manchmal sehr offensichtlich. Es geht darum, wie wir alle auf irgendeine Art und Weise selbstzerstörerisch sind oder handeln.
Dieses starke Leitmotiv wird im Film allerdings nicht nur durch die vier Hauptfiguren vertreten, sondern auch durch die anders geartete Umwelt der Area X.
Auslöschung: Wenn die Erde ein Krebspatient wäre
Lena, die sich in ihrem Job vor allem mit Krebszellenforschung beschäftigt, ruft als Figur ins Gedächtnis, dass Selbstzerstörung auf einem biologischen Level fest in der DNA des Menschen verankert ist.
Nicht nur psychisch über die Geschichte der gescheiterten Ehe von Lena und Kane, sondern auch physisch in den abnormalen biologischen Phänomenen jenseits des Schimmers spiegelt sich diese Erkenntnis. Aber vor allem auch in Form einer Krankheit, die häufig genauso unberechenbar und plötzlich auftaucht, wie der Schimmer - der Krebs.
Man mache sich diese Andeutung bewusst: Die menschliche Existenz kann nicht ohne die Möglichkeit bestehen, dass sich Psyche oder Körper gegen das eigene Sein verschwören könnten. Kein Zufall sind hier auch die wiederholten Aufnahmen von sich multiplizierenden Krebszellen oder der Umstand, dass Dr. Ventress, sowie auch Cassies Tochter durch Krebs ihr Leben verlieren. Die Auswirkungen des Schimmers, der Seelen und Körper der Frauen wie ein Prisma bricht und durcheinander wirbelt, werden erst nach und nach offensichtlich.
Gleichzeitig präsentiert Alex Garland seinem Publikum eine metaphorische Vision einer Erde, die von einem aggressiven Krebstumor heimgesucht wird, gegen den es noch kein Gegengift gibt. Dabei legt er besonderen Wert auf kontrastreiche Inszenierungen: Gelegentlich lässt die mutierte Natur dem Zuschauer das Blut in den Adern gefrieren: Ein Albino-Aligator mit Haizähnen oder ein mit menschlicher Stimme kreischender Mutantenbär machen den Aufenthalt in Area X zu einem absurden Horrortrip.
Dann wiederum hypnotisieren wunderschöne Bilder von eigenartig mutierten Pflanzen oder einem Hirsch mit geblümten Geweih. Und im nächsten Moment lässt Area X Fingerabdrücke sowie Kompassnadeln Samba tanzen, Eingeweide sich selbst verschlingen und das Gedächtnis sich selbst ausradieren.
Kurzum: Wer oder was in der Gefahrenzone ist oder war, wird danach jemand oder etwas anderes sein. Mal etwas Schöneres, etwas Besseres, mal etwas Geschädigtes, Verstörtes, doch in allererster Linie immer etwas Neues.
Die Auslöschung als natürlicher Entwicklungsprozess
So wird Annihilation vor allem zu einer allumfassenden Allegorie über die menschliche Existenz und das Leben an sich. Der Film wird zum Sinnbild dafür, wie Erlebnisse und Erfahrungen, vor allem traumatische, das Individuum formen, verändern und prägen. Dabei kämpfen Lena & Co. im Film nicht nur gegen den Schimmer, sondern vor allem gegen sich selbst.
Das wir letztendlich die Produkte unserer Umwelt sind, wird in zahlreichen Details deutlich. So zum Beispiel der Umstand, dass die endgültige Version Lenas am Ende des Films das Tattoo einer ihrer Kolleginnen trägt - im Film das Ergebnis eines weiteren Mischungsprozesses des Schimmers. Dabei entsteht stets etwas Neues, jemand Neues.
Für Kane-Schauspieler Oscar Isaac bezieht sich dieses Naturgesetz im Film vor allem auf die Entfremdung und das Scheitern der Ehe zwischen Lena und Kane:
Das, was man am Ende sieht, sind zwei Leute nach einem traumatischen, tragischen Erlebnis und sie sind nicht die, die sie vorher einmal waren. Am Ende steht die große Frage: Wo stehen wir jetzt und wie geht es weiter?
Das Ende von Auslöschung: Neue Menschen, neues Leben?
Insbesondere das Ende von Annihilation deutet daraufhin, dass die verlorene Intimität zwischen dem Soldaten und der Biologin ironischerweise erst durch die gemeinsame traumatische Erfahrung - den Ehebruch bzw. die Area X - wiederhergestellt werden kann. Beide tragen den Schimmer - das traumatische Ereignis - mit sich und sind nicht mehr die Menschen, die sie vorher einmal waren.
Beide haben selbstzerstörerische Prozesse durchlaufen. Garlands scheinbare Message: Der Mensch kann nicht durchs Leben gehen, ohne sich weiterzuentwickeln und frühere Versionen seiner selbst dabei auszulöschen. Die DNA trägt das Erlebnis dennoch in sich weiter. Oft ist dieser Weg mit einer Art von Trauma behaftet, doch darin liegt auch die Chance, die Persönlichkeit weiterzuentwickeln, sich neu zu erfinden.
Noch viel heißer als das endgültige Ende werden allerdings die Szenen im Leuchtturm diskutiert. Unter anderem begegnet Lena dort einer Art Spiegelversion von sich selbst, die sie mit Hilfe einer Phosphorgranate in Flammen aufgehen lässt. Diese Szenen interpretieren den nur allzu bekannten, meist körperlichen Endkampf zwischen dem Protagonisten und seinem Gegner, völlig neu.
Ihre Doppelgängerin, die sie in einer Szene fast zu erdrücken droht, steht hierbei für Lenas eigene destruktive Entscheidungen und Handlungen. Die Ex-Soldatin muss sich ihrem eigenen Ich stellen und die selbstzerstörenden Verhaltensweisen, das Trauma und die Schuldgefühle überwinden. Nur so kann sie zu einer neuen Version ihrer selbst werden und die alte Lena dafür auslöschen.
Erst die Interpretationen komplettieren den Film
Natalie Portman, die die Biologie-Professorin im einen Moment mit stählerner Bestimmtheit, und im nächsten mit leidender Selbsterkenntnis spielt, hielt sich mit ihrer persönlichen Interpretation in Interviews übrigens bisher stark zurück. Aus gutem Grund, wie sie selbst sagt:
Das Schöne an einem solchen Film ist eben, dass du dem Publikum etwas präsentierst und erst die verschiedenen Interpretationen das Werk wirklich fertigstellen.
Ähnlich klingt auch das Statement einer Kollegin: Dr. Ventress-Darstellerin Jennifer Jason Leigh rät dem Publikum, zu versuchen, den Film „aus der eigenen Haut heraus” zu schauen und zu verstehen.
Die recht abgeänderte und freie Film-Interpretation des ersten Buches der Southern Reach-Trilogie bietet übrigens noch weit mehr Subtext, zahlreiche Details und Metaphern. Nicht alle lassen sich beim ersten Sehen wahrnehmen oder mit Sicherheit aufschlüsseln. Dennoch machen sie Lust, den Film gleich mehrmals hintereinander buchstäblich zu absorbieren. Das Ende ist eben nur der Anfang.