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Wo die Erde bebt bei Netflix: Die Erklärung des Endes
Der Erotikthriller Wo die Erde bebt (Originalititel: Earthquake Bird) bei Netflix ist ein düsterer Streifen, der stellenweise Wirklichkeit und Hirngespinste miteinander verschmelzen lässt. Wir liefern mögliche Erklärungen, was es mit dem Erdbeben-Vogel auf sich hat, erläutern, ob Lucy wirklich „vom Tod verfolgt” wird und was das Ende bedeutet.
„Ständig sehe ich Menschen, die sich unterhalten, nur nicht über das, was sie wirklich gerade denken”, erklärt er und fährt fort: „Also, was denkst du wirklich gerade? Sag mir alles.”
Sie gehorcht, erwidert, dass die Nudeln zu heiß und die Brühe zu salzig seien. Dass dieses Date, vorausgesetzt, dass es eines ist, das seltsamste sei, was sie je erlebt habe. Dass sie einem Fremden nicht einfach vertrauen dürfe und sich lieber auf den Heimweg machen solle. Dass sie das aber nicht tun wird, weil sie sich von ihm angezogen fühlt.
Im neuen Netflix-Film Wo die Erde bebt sitzen Lucy (Alicia Vikander) und Teiji ( Naoki Kobayashi) sich in dieser Szene in einem Nudelrestaurant in Tokio gegenüber.
Kurz zuvor haben sie sich an diesem sonnigen 3. Mai 1989 kennengelernt, als der passionierte Hobbyfotograf die britische Auswanderin heimlich zu fotografieren versucht. Ein Ereignis, was eine Reihe verhängnisvoller Geschehnisse nach sich zieht …
Wo die Erde bebt beruht auf dem mehrfach preisgekrönten englischen Roman The Earthquake Bird der britischen Autorin Susanna Jones. Es gewann insgesamt drei Literaturpreise, darunter eine Auszeichnung der Crime Writers Association.
Colette-Regisseur Wash Westmoreland verfilmte den Roman nun für Netflix mit Oscarpreisträgerin Alicia Vikander in der Hauptrolle. Die Essenz des Filmes laut Westmoreland: „Es geht um die Vergangenheit und darum, ob sie jemals wirklich hinter sich gelassen werden kann.”
Wo die Erde bebt bei Netflix: Die Handlung des Psychodramas
Tokio 1989: Die geheimnisvolle und in sich gekehrte Auswanderin Lucy Fly (Alicia Vikander) lebt seit fünf Jahren allein und zurückgezogen in der japanischen Metropole. Die gebürtige Schwedin arbeitet als Übersetzerin bei einer Agentur.
Sie unterhält kaum soziale Kontakte, spricht wenig. Der fremden Kultur hat sie sich vollkommen angepasst und sie pflegt keinerlei Kontakte mehr in ihre Heimat.
Dann lernt sie Hobbyfotograf Teiji (Naoki Kobayashi) kennen. Schon bald entwickelt sich eine undurchsichtige, unterkühlte Romanze zwischen den beiden, die obsessive Züge trägt. Kurz darauf wird Lucy der jungen amerikanischen Krankenschwester Lily Bridges (Riley Keough) vorgestellt.
Lily ist alles, was Lucy nicht ist: extrovertiert, kokett, fordernd und bedürftig zugleich. Ein Partygirl mit wilder Dauerwelle, was pinke T-Shirts trägt und an Sternzeichen glaubt. Trotz aller Unterschiede freunden Lily und Lucy sich an.
Doch als auch Teiji Lily kennenlernt, ändert sich die Dynamik. Eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung beginnt, die Lucy ihre Vergangenheit auf schmerzhafte Weise wieder in Erinnerung ruft …
Die Erklärung der Erdbeben und des Erdbeben-Vogels
Wo die Erde bebt enttäuscht insgesamt eher mit einer holprigen Geschichte, hoher Vorhersehbarkeit und einer eher lustlosen und hölzernen Romanze ohne Chemie zwischen den Hauptdarstellern. Die Erotik muss man in dem angeblichen Erotikthriller bis auf eine Sexszene mit der Lupe suchen. Dennoch versuchte Regisseur Wash Westmoreland bei seiner Adaption mit Symbolen und Metaphern zu arbeiten.
In Wo die Erde bebt symbolisieren die Erdbeben eine allgegenwärtige Gefahr, doch die ist nicht nur in Lucys direkter physischer Umgebung zu finden, sondern vor allem auch in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Die junge Frau mit der traumatischen Vergangenheit lernte über die Jahre, sich vorwiegend von ihren Mitmenschen abzukapseln und Beziehungen nur auf oberflächlicher Ebene zu unterhalten.
Beziehungen tieferer Natur bedeuten für Lucy aufgrund ihrer vorigen Erfahrungen eine existenzielle Gefahr.
Als sie mit Lily und Teiji Bekanntschaft macht, kann sie der Sogwirkung der beiden allerdings nicht lange standhalten. Kein Wunder, dass sich die einzigen beiden Erdbebenszenen im Film darum auch nur zwischen Lucy und Teiji und Lucy und Lily abspielen, zwischen denen gleichermaßen eine gewisse Anziehung besteht.
Da Lucy, wie unten erklärt, nur als unzuverlässige Erzählerin eingestuft werden kann, könnte auch die Annahme vertreten werden, dass sich die Erdbeben möglicherweise nur in Lucys Fantasie abgespielt haben.
Ein reales Tier, was als Erdbebenvogel bezeichnet wird, existiert übrigens nicht, sondern nur in Roman und Film. Auch hier wird mit einer Metapher gearbeitet, die sich auf die Hauptfigur bezieht. Das lässt schon allein der Name Lucys vermuten.
Der Nachname „Fly” funktioniert hier als gängiges literarisches Stilmittel und symbolisiert die Losgelöstheit der Protagonistin von ihrer Umwelt und anderen Menschen. Sobald sie ernsthafte Verbindungen zu Mitmenschen eingeht, treten Erdbeben und der möglicherweise imaginäre Ruf des sogenannten Erdbebenvogels als warnende Elemente auf - vermutlich aber in erster Linie in Lucys Kopf.
Die Erklärung des Endes: Wer hat Lily Bridges umgebracht?
Die Frage ob Lily tatsächlich einem Mörder zum Opfer fiel und wenn ja, um wen es sich dabei gehandelt haben könnte, lässt Westmoreland bewusst offen. Dennoch streut er viele Hinweise auf zwei konkrete Lösungen zu der Frage, was es mit dem Verschwinden Lilys auf sich haben könnte.
Aufgrund der eher spärlich entwickelten Figuren, insbesondere von Lily und Teiji bleibt es für den Zuschauer dennoch fast unmöglich, sich eine fundierte Meinung zu bilden. Wer es trotzdem versuchen will, der sollte die folgenden beiden Möglichkeiten in Betracht ziehen.
Lily und Teiji sind ein Paar: Lucy fantasiert einen Mord herbei
Die Geschichte beschreibt ihre Protagonistin Lucy Fly als entwurzelte und einsame Einwanderin, die in der Fremde eine existentielle Sicherheit sucht und findet. In erster Linie wird Lucy als unzuverlässige Beobachterin charakterisiert. Das beginnt schon bei einer der ersten traumatischen Erlebnisse, die sie in ihrer Vergangenheit durchlebte.
Verführt von dem Vater ihrer Freundin, glaubte Lucy im Teenager-Alter von ihm geschwängert worden zu sein, worauf er laut Lucy schockiert und ablehnend reagierte. Dann fügt Lucy ihrer Erzählung hinzu, sie sei „doch nicht schwanger” gewesen.
Im Verlaufe des Films kommen weitere Momente hinzu, in denen der Zuschauer Lucy kaum Glauben schenken kann, zum Beispiel, als sie nach der Nacht mit Lily das Erdbeben erwähnt, während Lily darauf beharrt, das keines stattgefunden haben könne. Später kommt sogar noch wie aus dem Nichts Lucys Mordgeständnis innerhalb des Verhörs bei der Polizei hinzu.
Obwohl Lucy behauptet, Lily mit einem Ziegelstein erschlagen zu haben, liegen den Beamten bereits eindeutige Beweise vor, dass es sich bei der aufgefundenen Leiche nicht um Lily handelt. Sie habe Lily am liebsten töten wollen, als sie eine Beziehung zu ihrem Freund Teiji gewittert habe, begründet Lucy ihre Falschaussage indirekt.
All diese Momente weisen darauf hin, dass Lucy die äußerst schmerzhafte Erkenntnis, dass Lily und Teji hinter ihrem Rücken eine Beziehung eingingen und möglicherweise miteinander durchbrannten mit einer gänzlich anderen Fantasievorstellung überdeckte: der eines Mordes.
Zu glauben, dass Teiji Lily umbrachte und verschwinden lies, könnte für die Betrogene die „angenehmere” Vorstellung sein, als die, dass ihr heiß geliebter Freund lieber sein Leben mit ihrer Freundin verbringen will als mit ihr. In diesem Fall wären auch die Fotos von der toten Lily nur als ein Hirngespinst Lucys zu interpretieren.
Auch der Kampf auf Leben und Tod zwischen Lucy und Teiji gegen Ende des Films könnte stattgefunden haben, aber möglicherweise nicht so, wie er dem Zuschauer präsentiert wird. Denn auch hier wird vor allem aus Lucys Perspektive erzählt, die mit Unwahrheiten gespickt ist.
Auch, der Umstand, dass Teiji Lucy bittet, mit ihm zusammen aus der Stadt zu verschwinden, könnte nur einen von Lucy präferierten aber nicht realen Ausgang der Geschichte darstellen. Sicher ist, dass Teiji am Ende des Films definitiv nicht mehr unter den Lebenden weilt, da Lucys Freundin aus dem ihr später rät, „nicht um ihn zu trauern”.
Bei dieser Interpretation der Geschichte hätte Lucy ihren Freund vor allem aus einem Motiv heraus umgebracht: Eifersucht. Die wurde von dem Japaner zuvor bereits auf ungesunde Art und Weise geschürt. Am Abend nach dem Besuch in der Diskothek, gibt er sogar zu, sie vorsätzlich habe eifersüchtig machen wollen.
In dieser Version der Ereignisse bedeutet Lucys obsessive Eifersucht am Ende seinen Tod und nicht, wie gezeigt, ihre Notwehr gegen ihn. Wo genau sich Lily am Ende des Films befindet bleibt offen. Sicher ist: Es wird kein Mord an ihr gezeigt und es gibt weder eine Leiche, noch Beweise noch ein Mordmotiv Teijis.
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Teiji ist tatsächlich Lilys Mörder: Lucy als Opfer ihrer inneren Dämonen
Doch auch eine andere Version der Ereignisse kann durchaus in Betracht gezogen werden. Dafür, das Teiji tatsächlich der Mörder von Lily ist, spricht zum Beispiel seine unauffindbare und mysteriöse Ex-Freundin Satchi, die seinen Aussagen nach „plötzlich spurlos verschwand” - wie Lily.
Die setzt den Fokus ebenfalls auf die psychische Labilität der Protagonistin, jedoch weniger in Form von Liebesobsessionen als in Gestalt ihrer traumatischen Biografie. Denn Lucys überschaubarer Lebensweg ist bereits gezeichnet von prägenden Todesfällen.
Als sie sich als Achtjährige gegen einen Streich ihres Bruders wehrt, endet der Konflikt mit seinem Tod durch Lucys Gegenwehr. Im Alter von 14 Jahren wird Lucy vom Vater ihrer Freundin verführt oder sogar vergewaltigt. Nachdem sie ihm erzählt, sie sei schwanger, stirbt dieser bei einem Kajakausflug, möglicherweise auch durch Selbstmord. Es stellt sich später heraus, dass Lucy tatsächlich nicht schwanger ist.
Zu Beginn des Films wird Lucy Zeuge des Todes ihrer Orchester-Freundin Mrs. Yamamoto (Yoshiko Sakuma), die auf einer Treppe ausrutscht und sofort stirbt. Und natürlich könnte auch die vermisste Freundin Lily bereits das Zeitliche gesegnet haben, was Lucy allerdings nicht mit Sicherheit weiß.
Kein Wunder, dass die labile Lucy eine höhere Bedeutung in die Geschehnisse hineininterpretiert und für sich den niederschmetternden Schluss zieht: „Ich werde vom Tod verfolgt.” Obwohl Teiji in dieser möglichen Interpretation tatsächlich für den Tod von Lily verantwortlich ist, mit der er zumindest eine Affäre unterhielt, fühlt Lucy sich schuldig.
Grund dafür sind vor allem die lebenslangen Schuld- und Reuegefühle, die sie im Laufe der Zeit für die unterschiedlichen Todesfälle auf sich lud. Die drücken sich auch in Lucys scheinbar rätselhaftem Mordgeständnis aus, was ein Polizist eindeutig kommentiert.
Sie lade sich eine falsche Schuld auf, die nichts mit dem Fall sondern ihrer Vergangenheit zu tun habe, kommentiert der Beamte. Die rührt sicherlich auch von dem letzten unangenehmen Gespräch zwischen den Freundinnen, in dem sich Lily für ihre Affäre mit Teiji entschuldigen will.
Aufgrund der letzten Szene ist diese Interpretation der Ereignisse die deutlich wahrscheinlichere Variante. In der treffen sich Lily und ihre ältere Freundin und sprechen über die Geschehnisse. Lucy ist immer noch der Meinung, dass auch der Tod der gemeinsamen Musiker-Freundin auf ihren Todesfluch zurückzuführen ist.
Die Freundin verneint und erklärt Lucy, sie habe erst kurz vor dem Unfall die Treppe wachsen lassen - doch dieser Umstand mache sie selbst noch längst nicht zur Mörderin. Die Botschaft an Lucy: Die Vergangenheit ist nicht deine Schuld, sondern lediglich unglücklichen Umständen geschuldet. Einen Todesfluch gibt es nicht.
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