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Shape of Water: Ein Märchen-Thriller für Erwachsene
Guillermo del Toros Fantasydrama Shape of Water – das Flüstern des Wassers konnte bei den Oscars 2018 vier Goldjungen abräumen. Der mutige Genre-Mix, der elegante Look und nicht zuletzt die Kritik an der Gesellschaft, sowie die Botschaft für mehr Toleranz und Menschlichkeit machen den Film einzigartig, aktuell und zeitlos zugleich. Ein neuer Liebling für jeden Filmliebhaber - ab dem 28.06. verfügbar in der Unitymedia-Videothek!
Das Sofa schwebt friedlich mitten im blaugrünen Nass des altmodischen Wohnzimmers. Umgeben von einem tragbaren Plattenspieler, einer alten Uhr und einer leuchtenden Tischlampe schwebt eine Frau über dem Sofa – schlafend. Das Nachthemd wird von den Fluten sanft aufgebläht, der Kopf mit Schlafmaske ruht auf einem Kopfkissen. Eine Meerprinzessin? Ein Erzähler meldet sich zu Wort, kommentiert die eleganten, beinahe schon ätherischen Bilder - besonnen, betroffen und nachdenklich.
Diese märchenhafte Szene bildet den Einstieg in Guillermo del Toros Fantasyfilm Shape of Water – Das Flüstern des Wassers. Ehrlicherweise wird die beinahe schon schlichte Bezeichnung Fantasyfilm dem vielschichtigen Meisterwerk nicht ganz gerecht. Denn sie erweckt den Eindruck, man könne Shape of Water in einer einzigen Genre-Box verstauen.
Dabei ist Guillermo del Toros Werk, das satte 13 Oscar-Nominierungen verbuchen kann, mutig und eigensinnig genug, sich in kein Genre endgültig einordnen zu lassen. Denn Shape of Water ist Liebesgeschichte, Film Noir, Gesellschaftskritik und Spionagethriller in einem.
Es ist Monsterfilm, eine Romantik-Fabel, eine Parabel über Toleranz und eine Hommage an das goldene Zeitalter des Hollywoodfilms der Dreißigerjahre. Alles in allem magischer Realismus in einem Märchen für Erwachsene (ähnlich wie seine neue Animationsserie Trolljäger, die allerdings den magischen Realismus außen vor lässt). Mutiger als in Shape of Water wurde der Begriff „genreübergreifend” bisher auf der Kinoleinwand noch nicht interpretiert – so viel steht fest.
Hollywood-Regisseur Guillermo del Toro war sich ebenso über des Potenzial als auch das enorme Risiko einer solch waghalsigen Geschichte, eines solchen Drehbuchs, stets bewusst. Nachdem er von den 13 Oscar-Nominierungen in praktisch allen relevanten Kategorien hörte, äußerte sich der Mexikaner im Interview:
Jedes Mal, wenn man ein so risikoreiches Projekt in Angriff nimmt, wenn man es mit einer solch sensiblen Genre-Alchemie zu tun bekommt, weiß man nie, was dabei herauskommt. Es kann so oder so ausgehen. Es gibt bei so etwas keinen Erfahrungsschatz, auf den man zurückgreifen kann. Es ist wie ein Kontaktsport. Man legt einfach los und stößt mit dem Material zusammen.
Von dem angeblichen Zusammenstoß des Regisseurs mit seiner Geschichte hat der Zuschauer keinen blassen Schimmer – im Gegenteil. Denn die realistischen und surrealistischen Elemente des sogenannten „Materials” fügen sich außerordentlich leichtfüßig, selbstverständlich und elegant in die hochemotionale Geschichte ein.
Die Geschichte: Magischer Realismus
Sie beginnt im Jahr 1962 in einem dunklen, von Nachkriegsstimmung gezeichneten Forschungslabor der Regierung in der Küstenstadt Baltimore. Hier arbeitet die stumme Putzfrau Eliza Esposito Tag für Tag in den Räumlichkeiten der streng geheimen Forschungseinrichtung. Elizas Leben ist von Routine und Genügsamkeit geprägt.
Sie masturbiert täglich in ihrer Badewanne, liebt hartgekochte Eier und hat in ihrem schwulen Künstler-Nachbarn Giles und ihrer redseligen Kollegin Zelda zwei treue und vertraute Freunde gefunden. Doch eines Tages bringen Sicherheitschef Richard Strickland und Wissenschaftler Dr. Robert Hoffstetler ein geheimnisvolles Wasserwesen ins Labor. Es handelt sich um einen eindrucksvollen Meermann, den das Militär in den Gewässern des Amazonas fangen konnte, wo er von den Einheimischen als Gottheit verehrt wurde.
Der Amphibienmann weist eine Fülle exotischer Eigenschaften auf. Im Rüstungsrennen mit Russland soll die Forschung an dem Wesen bei der US-amerikanischen Kriegsführung gegen den sowjetischen Feind Vorteile verschaffen. Der brutale Oberst Strickland entwickelt wahre Freude daran, das Wasserwesen mit einem Elektroschocker zu quälen.
Eliza hingegen freundet sich heimlich mit der faszinierenden Kreatur an und schon bald entsteht eine romantische ungewöhnliche Liebesbeziehung zwischen der stummen Putzkraft und dem misshandelten Meermann. Als Strickland den Wassermann bei lebendigem Leib operieren will ist Eliza fest entschlossen, ihn vor diesem Schicksal zu bewahren.
Guillermos bunter Figuren-Kader für mehr Toleranz
Die Geschichte von Shape of Water verdankt ihre emotionale Tiefe und Relevanz vor allem dem sehr individuell gestalteten Figurenrepertoire. Die Charaktere wirken allesamt wie aus den unterschiedlichsten Genrefilmen entnommen. So scheint der leicht überzeichnete brutale Sicherheitschef Richard Strickland wie aus einem Agententhriller der Sechzigerjahre entfleucht. Die Rolle ist Schauspieler Michael Shannon wie auf den Leib geschneidert.
Die Hauptfigur Eliza hingegen wirkt einer ebenfalls leicht überzeichneten schrullig-märchenhaften Welt wie der von Audrey Tautous Amélie aus der französischen Liebeskomödie Die fabelhafte Welt der Amélie entsprungen – auch wenn es sich bei ihr um eine etwas schwermütigere Bewohnerin dieser Welt handeln müsste. Der geheimnisvolle Amphibienmann wird neben ihr zum Held der Geschichte – obwohl er dem klassischen Monsterfilm entspringt.
Dann gibt es da noch Elizas Freunde Zelda und Giles. Zelda repräsentiert als bodenständige und humorvolle Realistin eine klassische Dramafigur – und einen kontrastreichen Gegenpol zur verträumt und naiv wirkenden Eliza. Einen ähnlichen Stereotyp verkörperte Schauspielerin Octavia Spencer bereits in den Zeitdramen The Help und Hidden Figures.
Der leicht versponnene und eigenbrötlerische Giles, der im konservativen Amerika der Sechzigerjahre seine Homosexualität verstecken muss, könnte für sich selbst zum Dreh- und Angelpunkt einer klassischen Tragikkomödie werden. In Shape of Water avanciert er mit Eliza zum verträumten Heldenduo der Zuschauerherzen.
So unwahrscheinlich diese Figurenkonstellation in jedem anderen Werk funktionieren würde, in Shape of Water greifen genau diese kontrastreichen Charaktere optimal ineinander. Vor dem aktuellen Hintergrund von Isolationspolitik, Migrationsdebatte, #OscarsSoWhite und #MeToo werden sie zu einem Appell für mehr Menschlichkeit und Toleranz – nicht zuletzt mit der stummen Außenseiterin Eliza und ihrem Fremdling im Mittelpunkt. Das Andere, das Fremde willkommen zu heißen, das scheint sich Regisseur Guillermo del Toro mit Shape of Water zur Aufgabe gemacht zu haben. In einem Interview äußerte sich der 53-Jährige:
Wir leben in Zeiten der Angst, des Hasses und der Wut. Jeden Tag wird uns in den Nachrichten und in den sozialen Medien eingebläut, dass wir uns vor etwas fürchten müssen – vor dem Andersartigen. Vor anderen Religionen, anderen Menschen, dem anderen Geschlecht. Es wird Zeit, den Umstand lieben zu lernen, dass es kein „wir“ und „die anderen“ gibt, sondern nur „uns“.
Guillermos idealistische Glaubenssätze sprechen auch in beinahe jeder Szene zum Zuschauer. Sie scheinen seelenvolle Sehnsüchte des Machers zu enthüllen, nach Nächstenliebe, Verständnis und Kommunikation, die alle Grenzen und Hürden überwindet. Nicht umsonst gilt der Mexikaner als Poet und Träumer unter den Regisseuren unserer Zeit. Wäre Shape of Water ein Song, er würde klingen wie John Lennons Imagine.
Eine moderne Monster-Mensch-Romanze
Sally Hawkins spielt die sensible Eliza mit Feingefühl und Hingabe. Die Schauspielerin lernte für die Rolle eine veraltete Version der amerikanischen Zeichensprache. So ist Eliza zwar stumm, aber scheint stets zu ihrer eigenen inneren Melodie durch den Tag zu gleiten. Details wie Elizas Kopfhaltung, ihre Art, zu laufen, ihre ganze Manier verschmelzen zu einer einzigartigen poetischen Choreografie. Für Hawkins ist sie ein sehr spezieller Ausdruck des Innenlebens ihrer Figur. In einem Interview sagte sie über Eliza:
Sie ist eine so sanfte und liebenswerte Person und dennoch ist da eine wahre innere Stärke. Das nehme ich vor allem so wahr, weil man das im echten Leben selten findet. Es macht mir Angst, wie die Menschheit immer zynischer wird. Echte Unschuld und Herzensreinheit sind scheinbar verloren gegangen.
Elizas andersartiger Liebhaber hingegen scheint einem alten Horrorfilm-Klassiker wie Der Schrecken vom Amazonas nachempfunden. Doch anders als im typischen Horrorschocker wird er als verführerischer, gefühlvoller Held inszeniert anstatt als bedrohlicher Antagonist. Der kaum bekannte Superstar Doug Jones beschreibt in einem Interview seinen Meermann als stark, athletisch, maskulin und nicht zuletzt sexy. Del Toro erklärte, dass er es sich bei der Erschaffung des Meermannes zum Ziel gemacht habe, den David von Michelangelo unter den Amphibienmännern zu schaffen.
Del Toro entschied sich bei der Schaffung seines Fischherren gegen CGI und computerbasiertes Motion Capturing – sehr erfrischend, wenn man an die teils befremdlich animierten Figuren und Landschaften aus Blockbustern wie Die Schöne und das Biest (2017) denkt. Der Meermann wurde letztendlich mit einer Mischung aus Prothese, Make-up, UV-Farbe und betont sparsam eingesetzten digitalen Effekten zum Leben erweckt.
Die Geschichte selbst borgt sich typische Elemente einer Sechzigerjahre-Liebesgeschichte: Man teilt sein Mittagessen in der Pause, hört gemeinsam Schallplatten und neckt sich mit Blicken. Del Toro gibt gerade diesen Elementen einen liebevoll verschrobenen Eigencharakter: Noch nie wurden hartgekochte Eier am Rande eines Beckens so kokett geteilt und verspeist wie in Shape of Water. Noch nie verband irgendein Filmpaar die Liebe zu alten Platten von Glenn Miller und Benny Goodmann auf eine solch essentielle Art und Weise. Und ebenfalls eine Premiere: Ein Wassermonster, das in einer veralteten Zeichensprache mit einer stummen Putzfrau flirtet.
Die Beziehung entwickelt sich mit einer Einfühlsamkeit, die Grenzen der Sprache überschreitet. Lediglich in der essentiellen Verwandlungsdynamik hält sich Shape of Water an einen populären Dreh- und Angelpunkt wohlbekannter Monster-Mensch-Romanzen und Märchen.
Zahlreiche männliche wie auch weibliche Figuren aus Film und Fernsehen mussten bereits entweder die Verwandlung von einer anderen Spezies zum Menschen (z.B. wie Die Schöne und das Biest, Die kleine Meerjungfrau) oder vom Menschen zum Monster (z.B. Shrek, sämtliche Vampirgeschichten) durchstehen, bevor sie miteinander vereint sein konnten. Dieser Metapher bleibt auch Shape of Water treu, zumindest, wenn man den lediglich angedeuteten Gedanken am eher offenen Schluss des Films zu Ende denken will.
Doch während gängige filmische Liebespaare häufig in einer einseitigen Abhängigkeitsbeziehung zueinander stehen, helfen sich Eliza und ihr Amphibienmann im Laufe des Films stets gegenseitig. Jeder rettet buchstäblich das Leben des anderen - selbst heute noch eine progressive Inszenierung von Beziehung. Dabei verzichtet das Drehbuch allerdings auf eine allzu keusche, harmlose und gezuckerte Romanze. Sex-Szenen - mal expliziter, mal subtiler - werden nicht außen vorgelassen.
Körperlichkeit und Verlangen zwischen Eliza und dem Wasserwesen werden dank del Toros einfühlsamer Inszenierung zu einer sinnlichen Symphonie ohne ins Abartige abzudriften. Die einzige eher schwache Liebesszene spielt sich in Elizas Fantasie ab, wo sie und ihr Geliebter eine schwarz-weiße alte Musical-Nummer zum Besten geben, die – ob freiwillig oder unfreiwillig – einfach eine Spur zu komisch wirkt. Die vergibt man dem Film aber gerne – insbesondere, da man Träumerin Eliza zutrauen würde, dass sie ihren Fischmann gedanklich durchaus in einen schicken Smoking stecken würde.
Die Liebe zum Film und die Kritik an der Gesellschaft
Neben der allumfassenden Liebesgeschichte zwischen Eliza und ihrem Amphibienmann spielt allerdings noch eine ganz andere Liebe eine Rolle – die Liebe zum Film, zur Goldenen Film-Ära der Dreißigerjahre, um genau zu sein. Das romantische Träumer-Duo Eliza und Giles verweigert sich der harten Realität der Zeit durch die Flucht in eine zwitschernde, tänzelnde und cineastische Welt. Dass sie über einem Kino wohnen, das unter anderem das Musical Mardi Gras und Land of the Pharaohs im Programm hat, ist kein Zufall.
Die Putzfrau und der erfolglose Illustrator schauen sich verzückt Shirley Temple und Carmen Miranda im Fernsehen an und imitieren dazu die Stepptanzschritte vom Sofa aus. Sally Hawkins ließ sich bei ihrer Interpretation der Figur von Stummfilmstars wie Buster Keaton inspirieren – und das sieht man.
Auch an kultige und richtungsweisende US-Fernsehprogramme wie Bonanza oder die legendäre Sitcom Mr. Ed wird erinnert. Selbst der Amphibienmann kann sich der Magie des Bewegtbilds nicht entziehen und vergisst seine Flucht, als er sich im leeren Kinosaal unter Elizas Wohnung einfach nicht von der Leinwand losreißen kann. Die Botschaft: Cineasten und Filmliebhaber – egal ob menschlich oder nicht – können einfach keine Bösewichte sein.
Auf ästhetischer Ebene kreiert del Toro einen maritimen Noir Film mit traum- bis albtraumartigen Bildern - elegant, kühl, nostalgisch. Sie betonen insbesondere im kalten Regierungslabor die paranoide Kriegsstimmung, insbesondere, wenn der Fiesling Strickland den Raum betritt. Gerade durch ihn kann Shape of Water auch als eine besonders poetische Sozialkritik gelesen werden: Strickland repräsentiert die konservative US-Gesellschaft nach der McCarthy-Ära die durch veraltete soziale und biblische Glaubenssätze von Doppelmoral geprägt ist.
Die gesellschaftlichen Außenseiter und Minderheiten stellen sich kollektiv gegen ihn und seine Ziele. Schauspielerin Octavia Spencer merkte in einem Interview ganz richtig an, dass es kein Zufall sei, dass es ein homosexueller Mann und eine schwarze Frau seien, die den größten Redeanteil im Film haben. Die stärkste Stimme bleibt dennoch die der stummen Außenseiterin Eliza.
Die dynamische Kamera-Arbeit von Dan Lausten und der vielseitige, mal verträumt märchenhafte, mal nostalgisch geprägte Original Score liefern kunstvolle und absolut oscarwürdige Stimmungen und Assoziationen. Unabdingbar, bei einem Film der eine so große Fülle verschiedenster Emotionen beim Zuschauer abklopft wie Shape of Water. Daran erinnert sich auch Erzähler Giles, der die Geschichte aus der Vergangenheit erzählt. Er entlässt den Zuschauer mit geheimnisvollen sanften Wortwellen aus del Toros bisher gefühlvollsten Film-Gewässern:
Wenn ich Ihnen von ihr erzählen würde, was würde ich sagen? Dass sie glücklich bis an ihr Ende lebten? Das glaube ich wirklich. Dass sie sich liebten? Dass ihre Liebe ewig währte? Ich bin sicher, dass das stimmt. Aber wenn ich an sie – an Eliza- denke, ist das Einzige, was mir einfällt, ein Gedicht, geflüstert von einem Liebenden vor hunderten von Jahren: „Unfähig, deine Gestalt zu erfassen, sehe ich dich überall um mich. Deine Anwesenheit füllt meine Augen mit deiner Liebe. Sie schmeichelt meinem Herzen, denn du bist überall.
The Shape of Water ist ab dem 28.06. in der Unitymedia-Videothek verfügbar.
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