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Sergio bei Netflix: Die wahre Geschichte von Sérgio de Mello im Faktencheck
Das Netflix-Polit-Drama „Sergio“ erzählt vom ruhelosen Kampf eines idealistischen UN-Diplomaten gegen Krieg und Ungerechtigkeit. Doch wusstest Du, dass es den Titelhelden Sérgio Vieira de Mello wirklich gab? Erfahre in unserem Faktencheck mehr über die wahre Geschichte und die realen Hintergründe von „Sergio“.
Achtung: Wenn Du noch nie von Sérgio Vieira de Mello gehört hast, enthält dieser Text Spoiler zur Handlung von „Sergio“. Vielleicht solltest Du Dir den Film erstmal bei Netflix oder über die Netflix-Option von GigaTV anschauen, bevor Du weiterliest.
Das inspirierende Leben und der frühzeitige Tod von Sérgio Vieira de Mello ist eine jener Geschichten, die einen einfach nicht mehr loslassen. Kein Wunder, schließlich galt der 2003 einem Bombenattentat zum Opfer gefallene UN-Diplomat als erfolgreicher Friedensstifter, der sogar als künftiger Generalsekretär der Vereinten Nationen gehandelt wurde.
Auch Regisseur Greg Barker ging Sérgios Tragödie nicht aus dem Kopf, weshalb er sich nach seiner Dokumentation „Sergio“ nun erneut mit dem Leben und Schaffen von de Mello auseinandersetzt. Dafür wählte er dieses Mal das Spielfilm-Format – und „Narcos“-Star Wagner Moura für die Hauptrolle.
Doch wie eng hält sich sein ebenfalls „Sergio“ betiteltes Netflix-Biopic eigentlich an die realen Begebenheiten? Um diese Frage zu beantworten, haben wir „Sergio“ mal genauer unter die Lupe genommen. Wo erzählt der Film die wahre Geschichte? Und wo hat er sich künstlerische Freiheiten genommen?
Sérgio: Der linke Student und die Nacht der Barrikaden
Wie im Film stammte auch der echte Sérgio de Mello ursprünglich aus Brasilien und bestritt sein Studium in Paris. Dort bewegte er sich vor allem in linken Kreisen und nahm 1968 an Studentenprotesten in der sogenannten Nacht der Barrikaden teil.
Dies wird auch in dem kurzen Kambodscha-Rückblick in „Sergio“ erwähnt, als er den Mitbegründer der Roten Khmer Ieng Sary (Sahajak Boonthanakit) im Dschungel trifft. Sary soll dem Film zufolge sogar selbst an den Protesten teilgenommen haben, wodurch die beiden nicht nur eine Gemeinsamkeit, sondern auch eine Gesprächsbasis haben.
Doch entspricht dieser vermeintliche Zufall überhaupt der Wahrheit? Nein, denn zwar hielt sich Sary für einige Jahre wirklich in Paris auf, er kehrte jedoch bereits Anfang der 60er-Jahre nach Kambodscha zurück. In der Nacht der Barrikaden war er also gar nicht in Paris.
Dass de Mello jedoch eine schmerzhafte Erinnerung an die Nacht der Barrikaden davongetragen hat, wie er in dieser Szene Sary erzählt, entspricht der Wahrheit. Tatsächlich wurde er bei den Protesten schwer am Kopf verletzt.
Die Narbe von einem französischen Polizeiknüppel behielt er laut „Chasing the Flame: One Man’s Fight to Save the World“, der Biografie über de Mello von Samantha Powers, für sein ganzes Leben.
Kambodscha: Sergio de Mello und die Roten Khmer
Auch wenn das Detail über die Nacht der Barrikaden nicht zutrifft, fand das riskante Treffen zwischen de Mello und Sary wirklich statt. Doch wie dem Diplomaten im Film auch vorgeworfen wird, stellten sich die Verhandlungen der UN mit den Roten Khmer – deren Terrorherrschaft immerhin 2,2 Millionen Menschen das Leben kostete – nur als Teilerfolg heraus.
Zwar schaffte er es in den Folgemonaten, Sary davon zu überzeugen, Hunderttausende der kambodschanischen Flüchtlinge umsiedeln zu lassen, doch hinterließ die UN nach ihrem Rückzug aus Kambodscha 1993 eine instabile Regierung, die nur wenige Jahre später wieder gewaltsam gestürzt wurde.
De Mellos Verhandlungstalent und seine Vorgehensweise, mit beiden Seiten des Konflikts in Kontakt zu treten, verschafften ihm trotzdem einigen Respekt in Diplomatenkreisen. Kritiker warfen ihm aber auch vor, dass er eine zu große Nähe und zu geringe kritische Distanz zu den Roten Khmer unterhalten habe.
Seinem Ruf, selbst mit den härtesten Diktatoren und Rebellenführern an einem Tisch zu sitzen, machte er auch in den folgenden Jahren (z.B. im Kosovo) alle Ehre. Laut Samantha Powers habe er einmal gewitzelt, dass seine Autobiographie eines Tages „Meine Freunde, die Kriegsverbrecher“ heißen würde.
Diese Seite von de Mello wird in „Sergio“ nur wenig beleuchtet, auch weil die relevanten Kontexte zu Kriegsparteien und Personen – wie auch im Fall der Roten Khmer – meist nur angeschnitten werden.
Welche Bedeutung kam de Mello in Osttimor zu?
De Mellos Einsatz in Osttimor zwischen 1999 und 2002 nimmt viel Raum in der rund zweistündigen Laufzeit von „Sergio“ ein. Der Film hält sich hier weitgehend an die Fakten, wobei die Einordnung der politischen und geschichtlichen Hintergründe jedoch etwas zu kurz kommen.
Die wichtigsten Punkte haben wir deshalb hier noch einmal zusammengefasst.
Osttimor, eine ehemalige portugiesische Kolonie, wurde 1975 vom Nachbarland Indonesien überfallen und über mehrere Jahrzehnte besetzt. Bis zu 200.000 osttimoresische Leben forderte diese Zeit. Als die Bevölkerung 1999 bei einer Volksabstimmung mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit stimmte, folgte eine neue Welle der Gewalt.
Die UN schritt ein und entsandte Sérgio de Mello, um mit Indonesien zu verhandeln und den Übergang von Osttimor zu einem eigenständigen Land zu leiten. Wie im Film dargestellt, musste er dabei jedoch erstmal die Osttimoren selbst, allen voran Widerstandsführer Xanana Gusmão (Pedro Hossi) von seinen guten Absichten überzeugen.
De Millo wurden – was in „Sergio“ nicht in vollem Maße verdeutlicht wird – in Osttimor weitreichende Machtbefugnisse zugesprochen, die er sich jedoch weigerte, voll auszuspielen. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, möglichst schnell eine neue demokratische Regierung auf die Beine zu stellen.
Nachdem er sogar die indonesische Seite dazu bewegen konnte, die Kontrolle über das Land aufzugeben und sich für die Gräuel des Konflikts zu entschuldigen, wurde Osttimor 2002 endlich als unabhängiger Staat anerkannt.
Gab es Sergios große Liebe Carolina Larriera wirklich?
Die von „Knives Out“-Star Ana de Armas gespielte Carolina Larriera nimmt in „Sergio“ eine weitere zentrale Rolle ein. Doch da die Liebesgeschichte zwischen ihr und de Mello so romantisch und für ein Polit-Biopic überraschend detailliert erzählt wird, stellt sich natürlich die Frage, ob es sie auch wirklich gegeben hat.
Romantiker dürfte es freuen, dass die Figur von Carolina tatsächlich auf dem realen Vorbild gleichen Namens basiert. Wie im Film begegnete de Mello der jungen argentinisch-italienischen UN-Arbeiterin erstmals in Osttimor.
Der bekannte Diplomat war zu diesem Zeitpunkt zwar noch mit seiner ersten Frau verheiratet. Als er jedoch 2000 die Scheidung einreichte, hatte das Ehepaar bereits seit fast 20 Jahren getrennt gelebt.
Nur beim Alter ihrer beiden Söhne wurde etwas geschummelt, denn diese waren damals bereits erwachsen.
Überraschung: Diese Kitsch-Szene entspricht der Wahrheit
Obwohl einige der romantischen Szenen in „Sergio“ offensichtlich für die filmische Umsetzung aufpoliert wurden, ist gerade der kitschigste Moment überraschenderweise wirklich so passiert.
Die Rede ist von der Szene, in der Carolina entdeckt, dass Sérgio für sie einen ganzen Raum mit Kerzen und Papierherzen gefüllt hat. Diese Anekdote findet sich nämlich auch in Samantha Powers offizieller Biografie über Sergio de Mello.
Ihr zufolge bezeichnete das Paar künftig die Beziehung bis zu diesem Moment lediglich als „Vorgeschichte“, während alles was danach kam als die wirkliche „Geschichte“ zählen sollte. Larriera selbst lebt heute noch, ihre persönliche Webseite ziert noch immer ein Paarfoto von de Mello und sich selbst.
Wusstest Du, dass der Netflix-Thriller „The Red Sea Diving Resort“ auf einer unglaublichen wahren Geschichte beruht? Erfahre hier, was wirklich passiert ist.
Sergio: Die Darstellung des Bombenanschlags und seiner Umstände
Am 19. August 2003 wurde das Canal Hotel, in dem die Vereinten Nationen ihr Hauptquartier in Bagdad aufgeschlagen hatten, von einer massiven Explosion erschüttert. 22 Menschen kamen bei dem Anschlag ums Leben, unter ihnen auch Sérgio de Mello.
Der irakische Al-Quaida-Führer Abu Musab al Zarqawi übernahm die Verantwortung für das Attentat. Der Film bemüht sich bei der Darstellung des Anschlags und der begleitenden Umstände um größtmögliche historische Genauigkeit.
So stimmt es tatsächlich, dass de Mello im Vorfeld schwerbewaffnete US-Militärfahrzeuge entfernen ließ. Er wollte damit den Irakern versichern, dass die UN eben nicht unter dem Befehl der US-Besatzungsmacht stand.
Ein Detail, das in „Sergio“ ausgelassen wird, ist der Fakt, dass erst einige Wochen zuvor eine weitere Bombenattacke gegen die jordanische Botschaft verübt wurde. Der Anschlag am 7. August tötete ebenfalls 17 Menschen.
Die Erwähnung dieses schrecklichen Vorfalls hätte auch im Film zeigen können, wie brisant und gefährlich die Situation im Irak zu diesem Zeitpunkt war.
Lust auf mehr Hintergründe zu wahren Film-Geschichten? Auch für „Narcos: Mexico“ haben wir den echten Fall von Félix Gallardo für Dich aufgerollt.
Der Tod von Sérgio de Mello im Film und in der Realität
In „Sergio“ erleben wir im Laufe des Films auch die letzten Stunden im Leben von de Mello mit. Unter den Trümmern des Canal Hotels begraben, erliegt der schwer verletzte Diplomat am Ende seinen Wunden.
Auch dies entspricht den wahren Begebenheiten, bis hin zu den fruchtlosen Rettungsversuchen von Bill von Zehle und Andre Valentine, die im Film von Garrez Dillahunt und Will Dalton dargestellt werden. Es fehlte schlicht an den nötigen Werkzeugen.
Video: Youtube/ Netflix Deutschland, Österrreich und Schweiz
De Mellos Kollege Gil Loescher (Brían F. O’Byrne), der mit dem Brasilianer verschüttet wurde, überlebte die schreckliche Tortur. Um ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien, mussten ihm aber auch in der Realität beide Beine amputiert werden.
Carolina Larriera überlebte auch im echten Leben den Bombenanschlag, auch wenn sie laut ihrer Webseite im Anschluss unter einem sogenannten Posttraumatischen Stresssyndrom litt. Im Jahr 2013 veröffentlichte sie bei der Huffington Post einen Artikel, in dem sie die UN und die USA dafür kritisierte, die Hintergründe des Anschlags nicht ausreichend untersucht zu haben.
Sie lebt und arbeitet heute als Ökonomin in Brasilien.
Fazit: Eine wahre Geschichte mit einigen Freiheiten
Unser Faktencheck der wahren Geschichte von „Sergio“ ergibt, dass sich der Film in weiten Teilen tatsächlich an die realen Begebenheiten hält. Nur bei der angeblichen Anwesenheit von Ieng Sary in der Nacht der Barrikaden in Paris wurde die Wahrheit gedehnt.
In Bezug auf die historischen und politischen Kontexte und einige biografische Details fallen im Film jedoch einige Lücken und Auslassungen auf. Wer sich mit diesen Aspekten genauer auseinandersetzen will, dem sei die gleichnamige HBO-Dokumentation von Greg Barker empfohlen.
Dort wird auf diese Aspekte auch noch vertieft eingegangen. Sehen kannst Du die „Sergio“-Doku ebenfalls bei Netflix. Auf deinen Account kannst Du übrigens auch über GigaTV zugreifen.
Du willst mehr spannende Filme sehen? Hier findest Du alle bisher bekannten Exklusivfilme bei Netflix 2020.
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