Hanna Ardéhn und Felix Sandman,in Quicksand
© Netflix
Bild aus Der Herr der Ringe: Die Schlacht der Rohirrim
Plakat zum Musical-Film Wicked

Quicksand bei Netflix: Eine wahre Geschichte?

Das erste schwedis­che Net­flix-Serieno­rig­i­nal Quick­sand- Im Traum kannst du nicht lügen dreht sich um einen rät­sel­haften Amok­lauf. Wir ver­rat­en, ob es sich dabei um eine wahre Geschichte han­delt und wie stark sie sich an der Real­ität ori­en­tiert. Erfahrt außer­dem, wie es um Staffel 2 steht.

Achtung, es fol­gen Spoil­er zum Ende und zur Auflö­sung von Quick­sand!

Maja gilt an ihrem schwedis­chen Elite-Gym­na­si­um als her­vor­ra­gende Ein­ser­schü­lerin aus lieben­dem und wohlhaben­dem Eltern­haus. Beliebt, bild­schön, pflicht­be­wusst - auch das ist Maja.

Jet­zt sitzt sie im Klassen­raum in einem Hal­bkreis aus mehreren leblosen und bluti­gen Kör­pern, darunter einige ihrer wichtig­sten Bezugsper­so­n­en, neben sich ein Gewehr. Eine weit­ere Waffe befind­et sich in ihrem Spint. Blut auf Linoleum, Sire­nen und Panikschreie. Maja ist die einzige Über­lebende eines Amok­laufs in einem Klassen­z­im­mer. Und die mut­maßliche Täterin.

Hanna Ardéhn in Quicksand

Nach dem Amok­lauf: Maja ste­ht unter Schock. Hat sie einen Lehrer und mehrere Mitschüler erschossen? | © Netflix

„Es ist eine Geschichte über ihren Fall von ganz oben nach ganz unten”, erk­lärt Fri­da Asp, Pro­duzentin der neuen hochkaräti­gen Net­flixserie Quick­sand - Im Traum kannst du nicht lügen. Im Grunde ist Quick­sand allerd­ings noch viel mehr als das: Erstes schwedis­ches Net­flix Orig­i­nal, psy­chol­o­gis­ches Dra­ma, Sozialkri­tik, Aufk­lärung und Weck­ruf zugleich.

Es ist aber auch hochw­er­tiges Serien­gold aus ein­er Mis­chung der pack­enden Erfol­gsse­rien Tote Mäd­chen Lügen nicht und The Sin­ner. Was Quick­sand glück­licher­weise nicht ist: eine bil­lige Kopie, ein pathetisch-prä­ten­tiös­es Tee­niedra­ma oder auch ein­fach nur irgen­deine weit­ere Net­flix-Serie. Wir ver­rat­en, ob es sich bei Quick­sand um wahre Begeben­heit­en han­delt, was Jugendliche in der Serie und in der Real­ität zu Amok­läufern macht und alle bish­eri­gen Infos zu Staffel 2.

Sind Serien wie Tote Mäd­chen lügen nicht gefährlich? Wir haben eine ein­deutige Antwort für die umstrit­ten­ste Frage zur polar­isieren­den Net­flix-Serie gefunden. 

Quicksands Handlung: Beruht der Amoklauf auf einer wahren Begebenheit?

„Der Grund, warum ich über einen Amok­lauf an ein­er Schule schreiben wollte, lag nicht unbe­d­ingt in dem Ver­brechen selb­st, son­dern in sein­er Umge­bung. Also in der Schule. Die Schule ist eine sehr geschlossene Umge­bung. Mein Buch dreht sich um unkon­trol­lier­bare Sit­u­a­tio­nen in geschlosse­nen Räu­men”, erläutert Malin Pers­son Gioli­to im Inter­view mit otherpress.com.

Die Autorin der schwedis­chen Best­seller­vor­lage Im Traum kannst du nicht lügen (schw.: Störst av Allt, dt.: Das Beste von allem) wurde bere­its für die Roman­vor­lage zu Quick­sand gefeiert und aus­geze­ich­net. Die Geschichte selb­st ist rein fik­tiv, und doch so nah an der Wirk­lichkeit. Sie rückt ein alarmieren­des gesellschaftlich­es The­ma aus den unmit­tel­baren Leben­sre­al­itäten viel­er Jugendlich­er aus aller Welt in den Mit­telpunkt. Wir erk­lären, wie real­is­tisch Quick­sand wirk­lich ist.

Hanna Ardéhn und Felix Sandman in Quicksand

Die schö­nen und reichen Elite-Kids aus Schwe­den sind mit mas­sig Dro­gen und zu wenig Zuwen­dung ver­sorgt … | © Netflix

Maria „Maja” Nor­berg ist Muster­schü­lerin an ein­er Eliteschule in einem der wohlhabend­sten Vier­tel in der Nähe Stock­holms. Sie liebt ihre kleine Schwest­er Lina, Face­time und ihre beste Fre­undin Aman­da. Ein gepflegtes Zuhause, liebende Eltern und Luxu­surlaub in Süd­frankre­ich, das ist der Stoff, aus dem das Leben der 18-Jähri­gen gestrickt ist. Auch ihr neuer Fre­und Sebas­t­ian lebt in Saus und Braus, lungert auf sein­er Luxu­sy­acht herum und ver­ste­ht sich vor allem aufs Partymachen.

Eines mor­gens geschieht ein schreck­lich­es Unglück am Gym­na­si­um: Bei einem Amok­lauf wer­den vier Men­schen getötet. Maja, blutver­schmiert und sprach­los, über­lebt das Blut­bad. Alles spricht dafür, dass sie selb­st für die schreck­liche Tat ver­ant­wortlich ist.

Doch wenn diese The­o­rie wahr ist, wie kon­nte aus der braven und behüteten Schü­lerin eine heimtück­ische Atten­tä­terin wer­den? Ist Maja wom­öglich ein Opfer ihrer direk­ten Umge­bung oder doch eine eiskalte Kil­lerin?

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„Störst av Allt”: Maja Norberg und die Frage nach dem Warum

Quick­sand erzählt in ein­dringlichem Sto­ry­telling ähn­lich dem aus den Net­flix-Erfol­gen Tote Mäd­chen lügen nicht und The Sin­ner eine Geschichte, die mit ein­er vor­erst unerk­lär­lichen Aus­gangssi­t­u­a­tion öffnet.

In Rück­blenden wer­den die kom­plex­en gesellschaftlichen Zusam­men­hänge, Umstände und Aus­lös­er der Wahnsinn­stat erk­lärt und schließlich aufgelöst. Ein psy­chol­o­gis­ches Dra­ma inklu­sive ein­er Who­dunit-Geschichte wie Quick­sand-Pro­duzentin Fati­ma Varhos in einem Behind-the-Scenes-Video die Serien-Adap­tion beschreibt.

Felix Sandman und Hanna Ardéhn in Quicksand

Sind Maja (Han­na Ardéhn) und Sebas­t­ian (Felix Sand­mann) wahnsin­nige Amok­läufer? | © Netflix

Ins­beson­dere für die deut­liche und vor allem neuere Sozialkri­tik an der schwedis­chen Wohl­stands­ge­sellschaft und für ihren gelun­genen Span­nungs­bo­gen kassierte Autorin Malin Pers­son Gioli­to großes Lob - wie auch die Serien­adap­tion. Die stellt in jed­er Minute die Frage nach dem Warum.

Skrip­tau­torin Camil­la Ahlgren, wohlbekan­nt für düstere Scan­di Noir-Hits wie Die Brücke, set­zt reale Miss- und Not­stände unter dem Nach­wuchs der Upper Class geschickt in Szene. Dabei lässt sie klis­chee­hafte und volk­stüm­liche Annah­men über Herkun­ft, Mind­set oder Hin­ter­grund der ver­meintlichen Täter größ­ten­teils außen vor. Eine völ­lig neue Geschichte entspin­nt sich hin­ter ein­er alt­bekan­nten wie gefürchteten men­schlichen Tragödie. Und den­noch, die Aus­lös­er bleiben dieselben …

Quicksands Realismus: Was macht Jugendliche zu Amokläufern?

Erfurt, Ems­det­ten, Win­nen­den - Städte, deren Katas­tro­phen-Kon­no­ta­tion in den Köpfen viel­er Deutsch­er nach wie vor mitschwingt. Mit­tler­weile sind Amok­forsch­er sich einig, dass die wenig­sten Täter ein stich­festes soziales Pro­fil teilen.

Das Klis­chee vom gemobbten und Com­put­er­spiele zock­enden Außen­seit­er deckt die Real­ität schon seit vie­len Jahren nicht mehr ab. Psy­chologe und Amok­forsch­er Jens Hoff­mann von der Uni­ver­sität Darm­stadt betont auf den Seit­en des BR: Die jun­gen Täter kom­men „mal aus prob­lema­tis­chen Fam­i­lien, mal aus guten Fam­i­lien­struk­turen.” Auch die pop­uläre Einzel­gängerthese wurde bere­its wider­legt, zum Beispiel von der soge­nan­nten Tar­get-Studie des Bundesforschungsministeriums.

Hanna Ardéhn und Felix Sandman,in Quicksand

Außen­seit­er? I wo! Maja (Han­na Ardéhn) und Sebas­t­ian (Felix Sand­man) schwim­men in Fre­un­den in Quick­sand | © Netflix

Inner­halb dieses Pro­jek­tes von 2014 wur­den laut BR „37 Stu­di­en mit ins­ge­samt 126 Tat­en in 13 Län­dern” unter die Lupe genom­men. Man erhoffte sich Ein­blicke in die Psy­che der jugendlichen Täter. Die Ergeb­nisse wider­legten so manchen Stereo­typ: Demzu­folge waren die jugendlichen Amok­läufer vor der Tat im Schnitt nicht mehr oder weniger zu Mob­bin­gopfern gewor­den als ihre Mitschüler.

Die Hälfte von ihnen hat­te Fre­unde vorzuweisen, lediglich ein Vier­tel der Täter galt als Einzel­gänger. Ein entschei­den­der Unter­schied zu US-amerikanis­chen soge­nan­nten School Shootern bestand vor allem darin, dass in Deutsch­land häu­figer auch Lehrer zu Opfern wur­den. In den USA waren die Amok­läufer bish­er vor allem auf gle­ichal­trige Opfer fix­iert gewe­sen. Beina­he scheint es, als hät­ten sich Quick­sands authen­tis­che Haupt­fig­uren reich­lich an diesen neuesten Forschungserken­nt­nis­sen bedient.

Hanna Ardéhn in Quicksand

Han­na Ardéhn begeis­tert in der Haup­trol­le der Maja Nor­berg in Quick­sand | © Netflix

Felix Sandman als Sebastian: Ein neuer Prototyp eines Amokläufers?

Mit Amok­läufer Sebas­t­ian Fager­man (Felix Sand­man) scheint bei Net­flix derzeit eine fik­tionale aber real­is­tis­che Ver­sion eines solchen Amok­läufers über die Bild­schirme zu flim­mern. In der Serie ist er es, der das Mas­sak­er begin­nt und seinen eige­nen Vater, seinen Lehrer Chris­ter und seinen deal­en­den Mitschüler Den­nis erschießt und Majas Fre­und Samir schw­er verletzt.

Die Fol­gen von Aus­gren­zung, Mob­bing und Man­gel­ware Fre­und­schaft? I wo! Sebas­t­ian umgibt sich häu­fig mit seinen Fre­un­den Labbe, Aman­da und natür­lich Maja. In der Schule ger­at­en die Mäd­chen über ihn in Verzück­ung, die Jungs stür­men seine Vil­la für wilde Par­ties. Sebas­t­ian ist kein Fan von Com­put­er­spie­len, dafür find­et sich ein Waf­fen­bezug über seinen Vater im eige­nen Haushalt und über Hob­byjägerin Maja.

Felix Sandman,in Quicksand

Rich Kid, Mäd­chen­schwarm, Eliteschüler, Amok­läufer? Felix Sand­mann spielt in Quick­sand einen Amok­läufer abseits der gängi­gen Klis­chees | © Netflix

Sebas­t­ian ist wed­er polizeibekan­nt, schw­er krim­inell, noch der Typ, dem seine Mit­men­schen eine solche Wahnsinn­stat zuge­traut hät­ten. Auch damit entspricht er dem durch­schnit­tlichen jugendlichen Atten­täter, wenn es nach Bericht­en von Spiegel Online geht. Der Umstand, dass Sebas­t­ian nach seinem Amok­lauf keinen Brief hin­ter­lässt, entspricht eben­falls seinen realen Vorbildern.

Ähn­lich wie der deutsche Durch­schnittsat­ten­täter hat es außer­dem auch der schwedis­che Net­flix-Charak­ter unter anderem auf einen seinen Lehrer abge­se­hen: Einen Tag zuvor hat­te der um ein ern­sthaftes Gespräch mit seinem schulschwachen Schüt­zling und deren Fre­un­den gebeten.

Der Cast von Quicksand

Auch Lehrer Chris­ter fällt dem Amok­läufer zum Opfer, nach­dem er ein Gespräch mit Sebas­t­ian und seinen Fre­un­den anset­zt © Netflix

Auch der Umstand, dass es in der Serie kurz vor dem Amok­lauf zu über­greifend­en und schulis­chen Prob­le­men kam, deckt sich im Übri­gen mit der „Target”-Studie des Bun­des­forschungsmin­is­teri­ums. Psy­chologe Her­bert Schei­thauer von der Freien Uni­ver­sität Berlin erk­lärt gegenüber dem BR: „In über 40 Prozent der Fälle gab es im Vor­feld der Tat Kon­flik­te und Stress mit Lehrern oder anderen Schul­vertretern. Das hat uns wirk­lich überrascht.”

Ver­nach­läs­sigte Jugendliche kämpfen auch in der Mys­tery-Web­serie Wish­list um Anerken­nung und schließen dafür einen Teufelspakt per App.

Neue Ursachenforschung für Amokläufe in Quicksand

Ein erster präg­nan­ter Unter­schied zu realen Amok­läufen im Tat­ablauf von Quick­sand: Sebas­t­ian richtet sich nicht selb­st oder lässt sich gar von Ein­satzkräften töten, wie das Groß der Amok­läufer in der realen Welt. Er fordert im Kugel­hagel seine Fre­undin Maja auf, ihn mit ein­er weit­eren Waffe zu erschießen, die er selb­st mit­ge­bracht hat.

Maja leis­tet dem nach einem verse­hentlichen doch tödlichen Schuss auf Fre­undin Aman­da Folge. Ein Tather­gang, der so in der Real­ität noch nie doku­men­tiert wurde, aber das gesellschaftliche Prob­lem, was hin­ter der Serie ste­ht, auf best­mögliche Art und Weise verdeutlicht.

Hanna Ardéhn und Felix Sandmann in Quicksand

Kein ganz nor­maler Schul­t­ag: Maja (Han­na Ardéhn) und (Felix Sand­man) kurz vor dem Amok­lauf | © Netflix

Auch bei der Auswahl der Opfer find­et sich eine sig­nifikante Abwe­ichung: Dass Sebas­t­ian als erstes zu Hause seinen eige­nen Vater umbringt, ist eben­falls ein großer Unter­schied, der von bish­eri­gen Amok­läufen an Schulen abweicht.

In einem Inter­view von 2012 mit der PNN betont Autorin und Amok­forscherin Ines Geipel: „Das Auf­fal­l­ende an den Tätern ist: Egal, was in ihrer frühen Kind­heit geschehen ist, kein­er dieser jun­gen Schützen attack­iert seine Eltern. Alle gehen den Umweg über den poli­tis­chen Raum oder den Schul­raum, der ja auch ein poli­tis­ch­er Raum ist.”

Und den­noch hat Malin Pers­son Gioli­to mit ihrer ganz eige­nen Kon­struk­tion eines Amok­laufs nicht nur lediglich ihrer Fan­tasie zu freien Lauf gelassen. Denn die Ursachen für den Amok­lauf des Sebas­t­ian Fager­man zie­len auf einen gesellschaftlichen Brand­herd ab, der bish­er schein­bar nur sehr zöger­lich von Forsch­ern und Medi­en mit Amok­läufen an Schulen in einen gemein­samen Zusam­men­hang gebracht wurde.

Hanna Ardéhn und Felix Sandman,in Quicksand

Auch im vor­bildlichen Schwe­den ste­hen viele gesellschaftliche Prob­leme an der Tage­sor­d­nung | © Netflix

Daher ver­lei­hen die zum Teil stark von den bish­eri­gen realen Amok­szenar­ien abwe­ichen­den Teile der Geschichte eine ganz beson­ders erschreck­ende Schlüs­sigkeit. Doch um welche sozialen Missstände geht es in Quick­sand eigentlich?

Quick­sands Sebas­t­ian lei­det an depres­siv­en Phasen und sehnt sich nach dem Tod. Finde hier 5 emo­tionale Filme über Depres­sio­nen, Teenag­er, Bor­der­line und Suizid.

Affluenza in Quicksand: Wohlstandsverwahrlosung als Amok-Herd

Den Jugendlichen in Quick­sand fehlt es materiell an rein gar nichts. Ihre noch kindlichen Leben­sre­al­itäten sind Wel­ten des Über­flusses und des sor­gen­losen Wohlstandes.

Während allerd­ings Maja in einem lib­eralen bis naiv-nach­läs­si­gen Eltern­haus eine Kind­heit voller Liebe und Zuwen­dung genoss, ging der stein­re­iche Sebas­t­ian durch eine häus­liche Hölle. Das Epizen­trum seines offen­sichtlich langjähri­gen Mar­tyri­ums: sein eigen­er Vater Claes (Reuben Sall­man­der), der offiziell reich­ste Mann Schwedens.

Der abge­hobene Geschäft­shai hält „Urlaube für über­be­w­ertet”, über­lässt den 18-Jähri­gen in seinem All­t­ag völ­lig sich selb­st und prahlt gerne vor seinen Kumpels mit 120 kg schw­eren Thun­fis­chen, die er auf den Azoren fängt.

Felix Sandmann in Quicksand

Wenn Blicke töten kön­nten: Sebas­t­ian (Felix Sand­mann) wird den Erwartun­gen seines Vaters (Reuben Sall­man­der) nicht gerecht. Kein Wun­der … | © Netflix

Aus der Ver­ach­tung für seinen eige­nen Sohn macht Claes keinen Hehl. Für seinen in Har­vard studieren­den älteren Spross hinge­gen hat er nur Lob übrig: „Lucas macht sich prächtig. Sebas­t­ian habe ich sog­ar über­prüfen lassen. […] Er kommt zu 100 Prozent nach ihr […] Im Ver­gle­ich zu ihm wirkt sog­ar seine jäm­mer­liche Mut­ter sta­bil und intel­li­gent”, verkün­det er angetrunk­en vor seinen Bewunderern.

Kein Wun­der, dass der ver­wahrloste und ein­same Junge aus der Mitte der Gesellschaft immer häu­figer zu harten Dro­gen greift und sich schon früh am Tag starke Wod­ka-Drinks im High End-Mix­er zusammenmischt.

Hanna Ardéhn und Felix Sandman,in Quicksand

Nach dem Dro­gen­rausch: Maja im Gefäng­nis | © Netflix

Nach einem Suizid­ver­such seines Sohnes reagiert Claes auf Majas wütende Vor­würfe gelassen: „Er hat so viele Chan­cen bekom­men und nicht genutzt”, beteuert Claes. Dass die Chan­cen seines Sohnes vor allem materieller und kaum emo­tionaler Natur sind, scheint für den eiskalten Raben­vater keinen Unter­schied zu machen.

In Quick­sand repräsen­tiert er auf über­spitzte Art und Weise das Parade­beispiel eines Eltern­haus­es, das den Nährbo­den für eine Entwick­lungsstörung ger­adezu her­anzüchtet. Die Rede ist von der soge­nan­nten Affluen­za, die Kri­tiknetz - Zeitschrift für Kri­tis­che The­o­rie der Gesellschaft unter dem Begriff ‚Wohl­standsver­wahrlosung’ fol­gen­der­maßen definiert:

Kinder und Jugendliche, denen es an per­sön­lich­er Zunei­gung und Zuwen­dung der Eltern fehlt. Die Eltern ver­suchen, die fehlende Zeit für die Erziehung der Kinder oft durch ver­mehrte materielle Zuwen­dun­gen auszu­gle­ichen. Während Eltern ein­er­seits für das materielle Wohl der Fam­i­lie und Kinder sor­gen, fehlt es ander­er­seits an emo­tionaler Zuwen­dung und Liebe.

Der Begriff Affluen­za wird derzeit in Deutsch­land noch kaum ver­wen­det, als offizielle Krankheit gilt sie eben­falls nicht. Teil­weise wird der Begriff auch stark kri­tisiert. Weit geläu­figer ist mit­tler­weile dafür der Begriff Wohl­standsver­wahrlosung, der das­selbe Phänomen beschreibt. Sie wurde auch bere­its in diversen Bericht­en über die Amok­läufe von Erfurt und Win­nen­den erwäh­nt. Bere­its 1986 berichtete der Spiegel über „die Krankheit, die noch in keinem Lexikon steht”.

Zitiert wurde der amerikanis­che Psy­chi­ater Roy Grinker aus dem Fach­blatt The Amer­i­can Jour­nal of Psy­chi­a­try, der fest­stellte: „Was eine solche Fam­i­lie an Geld gewon­nen hat, hat sie an Gefühlen und gele­gentlich auch an gesun­dem Men­schen­ver­stand eingebüßt.”

Hanna Ardéhn ,in Quicksand

Pro­tag­o­nistin Maja gerät in den Dun­stkreis ihres ver­nach­läs­sigten und depres­siv­en Mitschülers und wird zur wichtig­sten Bezugsper­son | © Netflix

Kurzum: Kinder wer­den mit materiellen Din­gen und Geschenken, vor allem auch zur dig­i­tal­en Selb­stun­ter­hal­tung, über­schüt­tet und sich selb­st über­lassen. Dafür find­en die oft über­ar­beit­eten Eltern kaum Raum für emo­tionale Unter­stützung und liebevolle Zuwen­dung. Werte, Gebor­gen­heit, Gren­zen, Zwis­chen­men­schlich­es und Erziehung find­en kaum noch statt.

Reiche Kinder arm dran: Der Mangel an Anerkennung

Bemerkenswert der Umstand, dass die Forschung auch noch über 30 Jahre später offen­bar nach wie vor über diesen sozialen Miss­stand bemerkenswert wenig Erken­nt­nisse zu ver­melden hat. Es liegen derzeit kaum zitier­bare Zahlen und Fak­ten zur Wohl­standsver­wahrlosung von Kindern und Jugendlichen in Deutsch­land vor. Das The­ma scheint nach wie vor unter dem öffentlichen Radar zu laufen. Und das in einem Zeital­ter, in dem die soge­nan­nten Rich Kids of the Inter­net Hun­dert­tausende Abon­nen­ten zu verze­ich­nen haben.

In Quick­sand wird der emo­tionale Not­stand des Pro­tag­o­nis­ten zum Aus­lös­er des Amok­laufs und genau an dieser Schnittstelle deckt sich Sebas­tians Geschichte wieder mit den Umstän­den real­er Amok­läufe. Denn den wichtig­sten Grund für eine solche Wahnsinn­stat, da ist sich Gewalt­forsch­er Wil­helm Heit­mey­er sich­er, bildet für prak­tisch alle jugendlichen Amok­läufer ein mas­siv­er Man­gel an Anerken­nung. Von „Orten der Kränkung” ist bei ihm die Rede.

Hanna Ardéhn und Felix Sandman,in Quicksand

Maja fühlt sich für den ver­nach­läs­sigten und psy­chisch labilen Sebas­t­ian ver­ant­wortlich | © Netflix

Im Fall der Net­flix-Serie liegt ein solch­er Ort vornehm­lich im eige­nen Zuhause und weit­et sich erst dann auf die Domäne Schule aus. Dabei müssen Fam­i­lien nicht zur ober­sten Upper Class gehören, um mit einem beden­klichen Lifestyle einen poten­ziellen Amok­läufer her­anwach­sen zu lassen: Nach den Experten des BR find­et Wohl­standsver­wahrlosung näm­lich auch häu­fig in Mit­tel­stands­fam­i­lien statt, in denen Kälte und Über­erwartung dem­nach weit ver­bre­it­et sein sollen.

Dass Luxus in so manchem wohlhaben­den Haushalt mit Liebe ver­wech­selt wird, scheint dem­nach alles andere als ein Net­flix-Märchen zu sein. Der emo­tionale Treib­sand, in den es die Angeklagte Maja in den Rück­blenden der Geschichte nach und nach zieht, speist sich vor allem aus der Igno­ranz der Erwachsenen.

Hanna Ardéhn in Quicksand

Maja im emo­tionalen Treib­sand bei der Rekon­struk­tion am Tatort | © Netflix

Im Behind-the-Scenes-Clip zu Quick­sand kom­men­tiert Maja-Darstel­lerin Han­na Ardéhn die Geschichte: „Ich glaube, viele Eltern wollen wirk­lich nicht sehen, dass etwas nicht stimmt - bis es zu spät ist.” Eine Tat­sache, die Krim­i­nalpsy­cholo­gin Karo­line Rosh­di, die sich mit Eltern von realen Amok­läufern stärk­er auseinan­der­set­zte, wohl sofort unter­schreiben würde. Laut Roshdis Forschun­gen erkan­nten die Eltern der Amok­läufer zwar die Anze­ichen für die gefährliche Entwick­lung des Kindes, schoben sie allerd­ings kurz­er­hand auf Abn­abelung­sprozesse und Pubertät.

In Quick­sand wird Maja durch den emo­tionalen Not­stand des depres­siv­en und suizidalen Sebas­t­ian zur ersten Anlauf­stelle ihres ver­nach­läs­sigten und mis­shan­del­ten Freundes.

Hanna Ardéhn in Quicksand

Lehrer Chris­ter wit­tert eine unge­sunde Dynamik zwis­chen Maja und Sebas­t­ian | © Netflix

Auf die Frage vor Gericht, warum die Muster­schü­lerin selb­st nach ein­er Verge­wal­ti­gung durch den immer aggres­siv­er agieren­den Sebas­t­ian eben diesem immer wieder zur Seite stand, weiß sie nur eine Antwort: „Weil er son­st nie­man­den hat­te.” Der einzige, der die ver­häng­nisvolle Dynamik zwis­chen den bei­den Teenagern richtig einzuschätzen weiß, ist Lehrer Chris­ter: „Maja, du bist sehr ver­ant­wor­tungs­be­wusst, aber du soll­test dich nicht für alles ver­ant­wortlich fühlen.”

Quick­sand schafft es trotz fik­tiv­er Geschichte, sich nah an den belegten Umstän­den und Fak­ten real­er schulis­ch­er Amok­läufe zu ori­en­tieren. Dabei wird das erste schwedis­che Net­flix-Orig­i­nal auch zu ein­er Serie, die erst­mals die möglicher­weise um sich greifende Wohl­stand­ver­wahrlosung für die Tragödie eines Amok­laufs ver­ant­wortlich macht und gängige Täterk­lis­chees außen vor lässt.

Hanna Ardéhn in Quicksand

Die „armen reichen Kinder” Schwe­dens: Wer ihre Prob­leme unter­schätzt, wird in Quick­sand zur Zielscheibe | © Netflix

Die Serie porträtiert eine Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche im materiellen Über­fluss auf der Suche nach Werten, Gren­zen und Zuwen­dung sind. Ohne Pathos schafft Quick­sand es, den Nöten der oft belächel­ten „armen reichen Tee­nies” Gehör zu verschaffen.

Arm dran trotz prallem Kon­to - spätestens nach Quick­sand will nie­mand mehr mit ihnen tauschen.

Auch diese Tee­nies aus den besten Serien wie Élite laufen Gefahr, ein­er Wohl­stand­ver­wahrlosung zum Opfer zu fallen.

Quicksand Staffel 2: Wird es eine Fortsetzung bei Netflix geben?

Bish­er hat Net­flix sich noch nicht über eine zweite Staffel des psy­chol­o­gis­chen Dra­mas geäußert. Die Buchvor­lage Im Traum kannst du nicht lügen von Malin Pers­son Gioli­to ist allerd­ings nach der ersten Staffel voll­ständig auserzählt.

Eine Fort­set­zung kön­nte bei einem möglichen Erfolg von Quick­sand allerd­ings den­noch zus­tandekom­men. The­ma­tisch stün­den hier sicher­lich vor allem die Fol­gen des Gericht­sprozess­es und Majas psy­chis­ch­er Zus­tand im Mit­telpunkt. Neue Details, die in der ersten Staffel ver­schwiegen wur­den, fän­den hier eben­falls Platz. Möglich wäre eine zweite Staffel also in jedem Fall.

Amok­lauf, die Zweite? Tote Mäd­chen lügen nicht kon­nte über die Buchvor­lage hin­aus in der zweit­en Staffel nicht überzeu­gen | © Beth Dubber/Netflix

Immer­hin wurde schließlich auch über die Buchvor­lage Jay Ash­ers von Tote Mäd­chen lügen nicht hin­aus eine zweite Staffel umge­set­zt, die allerd­ings nicht mit den besten Kri­tiken glänzen konnte.

Eine zweite Staffel von Quick­sand kön­nte sich aber auch möglicher­weise eines ähn­lichen Konzeptes wie Jes­si­ca Biels The Sin­ner bedi­enen - in Form ein­er Antholo­gieserie also. Damit kön­nten die Karten für eine zweite Staffel Quick­sand völ­lig neu gemis­cht und eine ähn­liche Geschichte im bekan­nten Stil erzählt wer­den. Nicht die wahrschein­lichere, aber vielle­icht die klügere Vari­ante, wenn man an so manch miss­lun­gene Erzäh­lele­mente aus Staffel 2 von Tote Mäd­chen lügen nicht denkt.

Früh­estens in einem Jahr, im Früh­jahr 2020, dürfte mit ein­er zweit­en Staffel zu rech­nen sein, sollte Net­flix sich tat­säch­lich für eine Fort­set­zung der schwedis­chen Serie entscheiden.

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