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Mother! erklärt: Was zur Hölle bedeutet Darren Aronofskys Bibel-Horror?
mother! ist ein durch und durch metaphorischer Film über die Zerstörungswut des Menschen und die Schöpfungsgeschichte der Bibel. Seit dem 1. August läuft der surreale Thriller auch bei Netflix. Wir liefern Dir die Erklärung zu dem interpretationsfreudigen Werk mit Jennifer Lawrence und Javier Bardem.
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Am Anfang stand die Spoiler-Warnung: Dieser Text enthält wichtige Interpretationen über die Handlung von mother! und sollte daher erst nach dem Film gelesen werden.
Eine engelsgleiche Jennifer Lawrence schaut uns an. Sie steht in einem üppigen Garten aus Blüten und Blättern. Sie streckt uns ein blutendes Herz entgegen, ein menschliches, wie es scheint. Das Poster für Darren Aronofskys mother! war nahezu das Einzige, was lange Zeit über den Film bekannt war.
Auf der Premiere bei den Filmfestspielen von Venedig bedachten einige Zuschauer den Film mit wütenden Buh-Rufen, andere applaudierten begeistert. Hinter Aronofskys Psycho-Horror steckt eine zweistündige Eskalation von einem Film. Eine höchst allegorische Bibelgeschichte, ein beklemmendes Beziehungsdrama und eine eindringliche Warnung an die Menschen der Gegenwart. Der anspruchsvolle Film bietet mindestens genauso viel Subtext wie das Netflix-Sci-Fi-Abenteuer Auslöschung.
Die Interpretation des Regisseurs
Für Darren Aronofsky ist die Bibel kein unbekanntes Terrain. Seit seinen frühen Filmen – Pi und The Fountain – beschäftigt ihn das Spirituelle. Mit Noah hat er 2014 seinen explizitesten Bibelfilm gedreht. Schon damals verstand er es, zu provozieren. Denn sein Noah ist kein gütiger Held, der auf seiner Arche steht und Giraffen streichelt. Aronofskys Noah, gespielt von Russell Crowe, ist ein Fanatiker, der einer göttlichen Vision folgend bereit ist, die Menschheit ein für allemal zu vernichten.
Während Noah noch in grauer Vorzeit spielte, versetzt Aronofsky die Schöpfungsgeschichte von mother! in die Gegenwart, wodurch der Zuschauer die zahlreichen Anspielungen erst einmal entziffern muss. Wir haben uns mother! genau angeschaut und erklären, wie Aronofsky Das Buch Genesis zum Psycho-Thriller gemacht hat.
Mutter Natur und Gott
Im Gespräch mit Indiewire sagte Darren Aronofsky über die Bedeutung seines Films:
Als Autor ging mir ein Licht auf, als mir klarer wurde, dass ich die Allegorie im Stil [des Surrealisten] Luis Brunuel angehen musste. Ich nahm ein Stück Welt, sperrte es in einen begrenzten Raum und machte es zu einer Geschichte über die Gesellschaft, gepaart mit einer persönlichen zwischenmenschlichen Geschichte. Ich habe herausgefunden, wie ich sie um einen biblischen Kern herum strukturiere und konnte sie dann ziemlich schnell schreiben.
In nur 70 Stunden schrieb er das Drehbuch: Ein von Schreibblockaden gequälter Autor (Javier Bardem) lebt zurückgezogen mit seiner jungen Frau (Jennifer Lawrence) in einem idyllischen Haus Mitten im Nirgendwo. Als er eines Tages ungebetene Gäste ins Haus einlädt, ist es mit der Ruhe zunehmend vorbei. Jennifer Lawrence spielt „Mother”, Javier Bardem ist „Him“. Die Erklärung liegt nahe, dass sie Mutter Erde darstellt und er Gott.
Gleich zu Beginn schafft „Er“ die Welt. Mit einem mysteriösen Kristall verwandelt er sein verbranntes Haus zurück in den Urzustand und die Handlung setzt sich in Gang. Mothers Verbindung mit dem Haus, dessen Herzschlag, steht für unsere Erde. Sie bemerkt jede Erschütterung, jeden Angriff auf ihre Welt. Mit der Ankunft des Menschen ist sie dem Untergang geweiht.
Tag 6
Am sechsten Tag erschuf Gott den Menschen. Die Bibelstelle: „Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen“ wird im Kontext von mother! zur unheilvollen Prophezeiung. Ed Harris’ Charakter ist der erste Mensch Adam, der eines Tages vor der Tür steht und vom Schöpfer gastfreundlich hinein gebeten wird.
Eines Nachts beobachtet Mother, wie der Mann über der Toilettenschüssel kauert. Seine Rippen sind offensichtlich verletzt. Am nächsten Morgen steht seine Frau (Michelle Pfeiffer) vor der Tür. In der Bibel erschuf Gott Eva aus Adams Rippe und entließ sie ins Paradies. Mothers Verwunderung darüber, dass Adam eine Frau hat, deutet darauf, dass sie gerade erst erschaffen wurde.
Der Sündenfall lässt nicht lange auf sich warten. Der verbotene Apfel, durch dessen Verzehr die ersten Menschen aus dem Garten Eden verbannt wurden, ist der Kristall, den Er in seinem verbotenen Arbeitszimmer aufbewahrt. Adam und Eva widersetzen sich und zerbrechen den Kristall. So wie Gott die Menschheit für immer aus dem Paradies verbannte, vernagelt er nun das Arbeitszimmer.
Kain, Abel und die Sintflut
Die Kinder von Adam und Eva sind Kain und Abel, gespielt von den Brüdern Domhnall und Brian Gleeson. Sie kommen wenig später an. Aus Missgunst und Neid tötet der Ältere den Jüngeren – wie in der Bibel. Als Kainsmal zurück bleibt ein Blutfleck auf dem Boden, den Mother nicht mehr weg bekommt. Im Gegenteil: Er breitet sich aus, zersetzt die Bodendielen und wird zum ersten Schandfleck im bisher makellosen Haus. Der erste Mord von vielen, die noch kommen werden.
Gottes Wunsch, angebetet und verehrt zu werden, führt dazu, dass er immer mehr Menschen in das Haus einlädt. Die Trauerfeier für Abel wird zum Desaster. Die Menschen respektieren weder Mother noch ihr Haus. Sie beginnen das Haus ungefragt zu streichen, betrinken sich, verschütten Getränke – ohne auch nur eine Sekunde ihr Verhalten zu reflektieren. Als sich zwei Gäste zum wiederholten Mal auf eine unbefestigte Spüle setzen, bricht diese und Wasser sprudelt aus den Rohren hervor. Die Szene ist eine Anspielung auf die Sintflut, die die Menschen von ihrem sündhaften Verhalten rein waschen sollte.
Die Eskalation
Während die erste Hälfe des Films ziemlich nah an der Bibel bleibt, vermischen sich die Anspielungen und Bilder in der zweiten Hälfte zunehmend. Die Botschaft wird im Chaos aber noch deutlicher: Wir Menschen zerstören unsere Welt in einem unaufhörlichen Kreislauf.
Nach der Sintflut wird Mother schwanger und erholt sich, bis der Poet sein Gedicht endlich vollendet hat (Anspielung: Das Neue Testament). Abermals stürmen Menschen hinein, die ihn mit Lob überhäufen und anbeten. Jetzt eskaliert der Film und wir erleben einen Schnelldurchlauf durch die Abscheulichkeiten, die die Menschheit der Welt angetan hat und noch antun wird.
Je mehr Menschen das Haus betreten, Mutter Erde mit Füßen treten, das Gebäude zu ihrem Eigentum machen, desto verzweifelter und ratloser wird auch Mother. Die Kamera klebt währenddessen den ganzen Film über förmlich an Jennifer Lawrence. Wir blicken ihr über die Schulter, ins Gesicht oder sehen mit ihren Augen, was stellenweise sogar ein wenig an die Ego-Shooter-esque Kamera aus der Die Tribute von Panem-Reihe erinnert.
Stück für Stück zerstören die Menschen die Erde. Sie reißen sie an sich, als ob sie ihnen gehörte. Das Haus wird zum Schlachtfeld für Krieg, Mord, die Geburt der Religion. Als Mother endlich ihr Kind gebärt, ahnt sie, was mit ihm geschehen wird, sobald sie es Gott aushändigt. Die Menschenmasse vor der Tür lauert darauf, einen Blick auf das Kind des großen Poeten zu werfen.
Mehr Mutprobe als Horrorfilm
In einem unwachsamen Moment macht sich die Masse das Kind zu eigen. Es wird herumgereicht, geworfen und fällt letztlich dem Fanatismus der Menschen zum Opfer. Jesus starb für unsere Sünden, heißt es in der Bibel. Die Masse beginnt, das Baby zu verzehren (Leib und Blut Christi werden bei der Kommunion gegessen), Mother wird getreten und geschlagen. Ein Bild dafür, dass auch wir unseren Planeten unentwegt ausbeuten. Trotz Gewalt, ist mother! nicht der einzige Horrorfilm, der ohne Jump-Scares schockt.
Der unsterbliche Schöpfer und Poet legt die sterbende Mother auf ein Bett. Sie fleht ihn an, aufzuhören. Doch zielsicher greift er ihr ans Herz und holt einen Kristall heraus, der identisch zu dem vom Anfang des Films ist. Plötzlich beginnt sich das verbrannte Haus zu verwandeln. Mother ist nur eine von vielen Inkarnationen der Erde. Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem der Mensch immer wieder aufs Neue den Planeten zerstört.
Mother! ist kein klassischer Horrorfilm und mehr eine Mutprobe für den Zuschauer, die Eskalation zu ertragen. Jennifer Lawrence erzählte in Interviews, sie hätte sich während eines Drehs noch nie so verausgabt. Die Engelsgleiche bietet euch immer noch ihr Herz an. Nehmt euch ihm an und ihr werdet einen der polarisierendsten Filme der letzten Jahre erleben.