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The Ordinaries | Kritik: Der originellste deutsche Film seit Jahren
Was wäre, wenn ein Film den Begriff „Filmwelt“ wörtlich nehmen würde? Vermutlich käme ein Streifen wie „The Ordinaries“ von Sophie Linnenbaum heraus, der Dich 120 Minuten in die Welt des Filmseins entführt. Warum uns der originelle Ansatz gefällt, erfährst Du in unserer Filmkritik.
Das Aufgreifen der Kontroversen des Filmemachens hat schon oft Platz in diversen Satiren gefunden. Wir denken an Meisterwerke wie „Die Truman Show“ oder „Wag the Dog“. The Ordinaries zieht die Filmwelt ins Groteske und begreift sie als Metapher, in der die Gesellschaft als Haupt- und Nebenfiguren abgebildet wird, inklusive Menschen mit Filmfehlern. So werden beispielsweise Outtakes oder asynchrone Figuren unterdrückt. Die Welt von The Ordinaries wird in drei Klassen unterteilt, in der Ausgrenzung und Ellenbogendenken Tagesordnung sind. Warum wir von vom Film begeistert sind, erfährst Du hier.
The Ordinaries: Ein Leben zwischen Hauptfiguren und Filmfehlern
Die Hierarchie der Filmwelt ist strikt und eindeutig: Hauptfiguren spielen Charaktere mit viel Text und vielfältigen Emotionen. Sie werden gefeiert und stehen gesellschaftlich an der Spitze der Nahrungskette. Nebenfiguren spielen im Hintergrund, sind auf eine oder zwei Emotionen festgelegt und haben nur wenig Text – wenn überhaupt. Und sie leben ein deutlich bescheideneres Leben, in kleinen Wohnungen und haben kaum Wünsche oder Träume. Verpönt sind die „Filmfehler“, Figuren die zum Beispiel asynchron klingen oder sonst irgendwelche filmtechnischen Makel aufweisen. Sie sind Ausgestoßene und dürfen beispielsweise im Bus nicht bei den anderen Figuren sitzen.
In dieser Welt lässt sich die Jugendliche Paula (Fine Sendel) zur Hauptfigur ausbilden, ist Klassenbeste und schaut bereits dem großen Abschluss entgegen. Ihre Mutter (Jule Böwe) ist Nebenfigur, auf die Emotion „Sorge“ festgelegt und spult dementsprechend immer die gleichen Dialoge rund ums Thema Sorgen machen ab. Als Paula bei einer ärztlichen Routineuntersuchung plötzlich keine passende Filmmusik mehr aus ihrem Leib bekommt, beginnt sie langsam den eigenen Platz in dieser Welt zu hinterfragen. Dabei hilft ihr das Hausmädchen Hilde (Henning Peker), eine „Fehlbesetzung“ in der Gestalt eines Mannes Mitte Vierzig.
Gesellschaftssatire mit charmantem Holzhammer
The Ordinaries muss als Satire nicht besonders aufwändig dechiffriert werden. Natürlich konstruiert Regisseurin und federführende Drehbuchautorin Sophie Linnenbaum hier eine Metapher für Oberschicht, Unterklasse, struktureller Ausgrenzung, fragwürdige Regierungsstrukturen und soziale Revolution. Das hätte man natürlich feiner ausdifferenzieren können, als sich in Stereotypen zu ergehen: Hauptfiguren haben einen an der Klatsche; Nebenfiguren ergehen sich im Alltagstrott; Filmfehler saufen viel. Die Held:innenreise der Protagonistin Paula ist nicht eben mit vielen Überraschungen gesegnet. Die wichtigste Wendung kündigt sich relativ früh an und lässt sich auch ohne viel Kinoerfahrung erahnen. Mit diesem Story-Gerüst verlässt sich The Ordinaries sehr auf seine unkonventionelle Prämisse und seinen speziellen Look. Ein Beinbruch ist das allerdings nicht.
Figuren zum Liebhaben
Da The Ordinaries auch eine Hymne auf das Unperfekte ist, hängen auch wir uns nicht an den subjektiven Unzulänglichkeiten des Skripts auf. Denn Sophie Linnenbaums Spielfilmdebüt hat einen entscheidenden Pluspunkt: seine Charaktere und deren Schauspieler:innen dahinter. Fine Sendel verleiht der Protagonistin Paula eine plausible Fragilität, die vor allem mitreißt, weil eben jene Zerbrechlichkeit und Paulas aufblühende mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Attitüde naturgemäß reichlich Konfliktpotential mit sich bringt.
Ganz wunderbar ist auch Henning Peker als fehlbesetztes Hausmädchen. Als Fehlbesetzung wird seine Rolle als Gag untergejubelt und mausert sich sukzessiv zur emotionalen Aorta des Films. Bravo!
The Look: Ein Hauch Vintage
The Ordinaries erzählt eine Meta-Filmwelt, die offenkundig mit Hingabe und Liebe zum Medium selbst gestaltet ist. Manch eine Figur leidet an Jumpcuts, andere sind asynchron. Während zwei Figuren im Splitscreen – also einem aufgeteilten Bildschirm – miteinander telefonieren, sind sie sich dieses Elements vollends bewusst.
Mit sterilen und riesig anmutenden Verwaltungsgebäuden, analogen Wählscheibentelefonen, einem generellen Hang zu Vintage und dem gesellschaftlich-politischen Tenor, kommen schnell Vergleiche mit Kultstreifen wie „Brazil“ oder „1984“ in den Sinn. Dass der Film an verschiedener Stelle als Science-Fiction klassifiziert wird, entspringt womöglich dem Drang, die abstrakten Elemente in The Ordinaries zu erklären. Unnötig, finden wir und trauen Dir zu, den Film als Gesellschaftssatire mit metafiktionalem Überbau zu erkennen.
The Ordinaries: Ein klares Ja zur Meta-Satire
Wir sind sehr davon überzeugt, dass The Ordinaries eine der originellsten und mindestens mal schönsten deutschsprachigen Produktionen des Kinojahres 2023 sein wird. Fans von Unterhaltungskino erfreuen sich einfach an der makellosen Effektpalette und den visuellen Spielereien. Die Charaktere entführen Dich mühelos in ihre Meta-Welt. Und obgleich die Sozialkritik mit dem harten Holzhammer kommt, ist dieser immerhin schön verpackt.
The Ordinaries ist ein featured-Filmtipp und eine Empfehlung für Fans von „Die Truman-Show“ (1998), „Pleasantville“ (1999), „Kentucky Fried Movie“ (1977) und „Reality“ (2014).
The Ordinaries | |
Originaltitel: | The Ordinaries |
Genre: | Satire, Arthouse, Tragikomödie |
Start: | 30. März 2023 (Kino) |
Laufzeit: | 120 Minuten |
Altersfreigabe: | Ab 12 Jahren (FSK), ungeschnitten |
Regie: | Sophie Linnenbaum |
Drehbuch: | Sophie Linnenbaum; Michael Fetter Nathansky |
Basiert auf: | Originaldrehbuch |
Für welchen Nebenfiguren hast Du ein besonders großes Herz? Wir freuen uns auf Dein Fandom in den Kommentaren!