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Skandalserie Euphoria: Unsere Serie des Monats
In den USA sorgte das Genremix-Drogendrama Euphoria (dt.: Rausch) mit Disney-Darling Zendaya und provokanten Szenen für Aufsehen und wurde zur Skandalserie deklariert. Wir hingegen erklären den neusten HBO-Streich zur Serie des Monats und zitieren das Werk selbst: „Dieser Shit ist fucking lit!” Warum? Lest selbst!
Für die einen ist es „grob unverantwortliche Programmgestaltung” (Parents Television Council), für andere eine „Teens-in-Nöten-Horrorshow” (Indiewire) und für wieder andere lediglich „kein Heilmittel und keine Lösung” (Euphoria-Regisseur Sam Levinson). Die Rede ist vom neuesten Serien-Release aus dem Hause HBO, das ein bis dato von ihm verschmähtes Genre nun umso kompromissloser auf heimische Bildschirme malt.
Die Coming-of-Age-Serie Euphoria lässt für ihre Explizität umstrittene Formate wie Tote Mädchen lügen nicht oder Skins so blass aussehen wie eine Serienleiche aus den Achtzigerjahren.
Sie basiert auf den Erlebnissen des Serienschöpfers und -Regisseurs Sam Levinson. Der heute 34-jährige Ex-Junkie erzählt in Euphoria von Scham und Trauma durch eine Sucht und hofft, Mitgefühl für Betroffene zu erwecken, wie er der New York Times mitteilte.
Er schuf einen kunstvollen Genremix aus düsterem Drogendrama, Vorstadthorror und cleverer Gesellschaftssatire und einen packenden Serientrip.
Wir erklären, warum wir Euphoria zu unserer Serie des Monats küren und warum du dank der neuen HBO-Serie getrost alles vergessen kannst, was du bisher über Teenieserien wusstest.
Euphoria bei Sky - die Handlung: Webcams, Grindr, Körper und Koks
Schülerin Rue Bennett (Zendaya) hat gerade die deprimierendsten Sommerferien ihres Lebens hinter sich: Nach einer Überdosis Drogen ging es für die 17-Jährige in den wochenlangen Entzug.
Am ersten Schultag nach den Ferien macht sie auf der Party des gefeierten College-Footballspielers Chris (Algee Smith) Bekanntschaft mit der neuen Schülerin Jules Vaughn (Hunter Schafer), die heimlich in düsteren Motelzimmern mit Männern zweifelhafter Moral nach Liebe und Anerkennung sucht.
Nachdem die transsexuelle Schülerin von dem aggressiven Schulschönling Nate Jacobs (Jacob Elordi) aus höchst zwiespältigen Gründen angefeindet wird, sie sich aber eindrucksvoll zu wehren weiß, schließen Rue und Jules sofort Freundschaft.
Doch auch das hält Rue vorerst nicht davon ab, sich auch nach dem Entzug erneut mit hartem Stoff aus den Händen ihres Dealer-Freundes Fezco (Angus Cloud) versorgen zu lassen.
Währenddessen findet sich die übergewichtige Kat Hernandez (Barbie Ferreira) von ihren Mitschülern beleidigt, bloß gestellt und ausgenutzt. Doch schon bald lernt die Minderjährige, auf zweifelhafte Art und Weise aus ihrer vermeintlich unattraktiven Figur im Netz Kapital zu schlagen …
Zwischen Würge-Sex, Überdosen und einer Wagenladung Dickpics versuchen die minderjährigen Vertreter der Generation Z, ihren Platz in der Welt zu finden. In einer Welt, in der Adoleszenz einem brutalen und enttabuisierten Spießrutenlauf gleicht – und in der nichts und niemand ist, wie es scheint.
Der Moment, der TV-Geschichte schreibt: Mikropenis-Masturbation per Webcam
„Einige Leute sagen, dass Augen das Fenster zur Seele sind. Ich sehe das anders. Ich denke, es ist dein Schwanz und wie du ihn fotografierst”, erläutert Teen-Junkie Rue in abgeklärter Manier. In einer imaginären Referatsszene, so satirisch wie temporeich, doziert sie über den Unterschied zwischen „erwünschten und unaufgeforderten Dickpics”.
Und der Vortrag wird noch deutlich detailreicher: Der ehemalige Disney-Darling verrät den lauschenden Mitschülern fachkundig, was anhand von Hintergrund und Bildqualität eines Dickpics über den Träger des guten Stücks abgeleitet werden kann.
Im buchstäblichen Rampenlicht der Analyse: Ein Penis in der Größe einer Evian-Flasche, an dem angeblich der heimliche Verehrer ihrer besten Freundin dranhängt. „Wir kommen mit einer Menge davon, wenn wir es mit Comedy machen”, kommentierte Euphoria-Star Zendaya die gewagte Montage gegenüber dem Hollywood Reporter.
Eine Szene, die ohne weiteres als provokantes Aushängeschild für das HBO-Format geltend gemacht werden könnte. Denn in Euphoria steht ausnahmsweise mal nicht die weibliche Nacktheit im Mittelpunkt, sondern eindeutig die männliche.
Glatt könnte man meinen, Regisseur Sam Levinson habe es sich zur Aufgabe gemacht, alle entblößten Brüste und Venushügel aus acht Jahren Game of Thrones mit männlichen Genitalien auszugleichen.
Am effektivsten gelingt ihm das am Anfang der zweiten Folge. Darin lässt er eine seiner männlichen Hauptfiguren mit sexuell unterdrückten Neigungen in einer Umkleideszene von nicht weniger als 20 entblößten Penissen umschlackern.
Darüberhinaus zeigt Euphoria Sex der unterschiedlichsten Arten und Legalitätsgrade. Einer davon ist unumstritten der Moment, der auf bedrückendste Art und Weise TV-Geschichte schreibt: Ein massiger Mann mit Mikropenis masturbiert per Webcam vor einem Teenager-Mädchen mit Katzenmaske. Dabei bittet er die Zuschauerin, ihn mit Beleidigungen anzuturnen.
Kein Wunder also, dass sich die Anstandswauwau-Gruppe des ultrakonservativen Parents Television Council an Euphoria gehörig stieß. Doch eins ist sicher: Nicht nur laut dem Tatort Das verkaufte Lächeln ist Webcam-Pornografie aus dem Kinderzimmer keineswegs nur in Alpträumen von Helikopter-Eltern zuhause.
Das bewies bereits der Fall des damals 13-Jährigen Justin Berry, der Anfang der 2000er damit begann, sich für Männer vor der Webcam für Geld und Geschenke zu prostituieren. Über fünf Jahre verdiente der Teenager Hunderttausende US-Dollar mit dem Pornogeschäft aus seinem Kinderzimmer in Kalifornien heraus.
Seine Geschichte bildet nur eine Facette der neuesten Variante von Kindesmissbrauch. Die ist mittlerweile internationalen Behörden unter dem Namen Webcam Child Sex Tourism (WCST) bekannt.
Ja, Euphorias Webcam-Szene schockiert und provoziert gleichermaßen. Dennoch ist sie ein beschämender Teil unserer globalen und digitalen Gesellschaft, dessen Relevanz schlicht zu groß ist, um ihn unter TV-Teppiche zu kehren. Noch dazu nicht innerhalb eines Formats, was sich explizit an junge Erwachsene und Eltern und nicht an 17-Jährige Schüler selbst richtet.
Zendaya hatte auf Instagram gewarnt, die Serie sei „für ein reiferes Publikum” produziert worden. Ihre jüngeren Fans sollten sie nur dann ansehen, wenn sie sich absolut sicher seien, sie auch verarbeiten zu können.
Größte Newcomer-Überraschung: Hunter Schafer als Trans-Teen Jules
Doch wer denkt, dass Euphoria nur mit Skandalszenen auf sich aufmerksam machen kann, der irrt. Denn auch die hervorragend gecasteten Darsteller machen HBO alle Ehre und überraschen mit eindringlichen Performances. Allen voran: Disney-Star Zendaya, die ihre Rue geschickt zwischen selbstzerstörerischem Junkie, suchender Seele und ichbezogener Teeniegöre hin und her wanken lässt.
Zum besonderen Star von Euphoria avanciert allerdings das transsexuelle US-Model Hunter Schafer in der Rolle der Jules. Mit Netzstrumpfhosen, rosa Mähne, Minirock und Plüschrucksack rauscht sie auf ihrem Bike durch die amerikanische Suburbia-Einöde. Eine Sailor Moon der Vorstadt.
Sowohl bei der Rolle als auch bei der Darstellerin handelt es sich um eine Person in der sensiblen Übergangsphase vom Mann zur Frau, Hormonspritzen in den Oberschenkel inklusive.
Eine weitere Premiere im Fernsehen: Jules Transsexualität wird weder zum Hauptproblem der Protagonistin, noch zur entscheidenden Daseinsberechtigung innerhalb der Geschichte gemacht.
Ihre ungesunde Vorliebe für zweifelhafte Gesellschaft und riskante Gindr-Dates wird nicht an ihrer sexuellen Identität aufgehangen, sondern an ihrer Familiengeschichte.
Noch nie wurde ein Transcharakter so nonchalant und selbstverständlich in einer Serie untergebracht, ohne dass sich alles für die Figur um ihr eigenes Transsein drehen musste – schon gar nicht in einer Coming-of-Age-Serie. Chapeau, HBO!
Zeitgeistigster Serienmoment: Nacktfotos, die Währung der Liebe
Der Zeitgeist spukt in Euphoria als Schreckgespenst der Generation Z durch Klassen- und Kinderzimmer. Mal auf satirisch amüsante, mal auf bierernste Art. Erste Kategorie, die Euphoria gewissenhaft abdeckt: Zweifelhafte Lifestyle-Trends. Ehrensache, dass hier versexte One Direction-Fan Fiction und die neusten Trinkgewohnheiten nicht vergessen werden dürfen.
Wer immer noch dachte, Wodka-Tampons, Eyeball Shots oder anales Beer Pong seien bei den Teenies der letzte Schrei, den wird Euphoria eines besseren belehren. Das nimmt sich mit Augenzwinkern die degeneriertesten Trinktrends zum Vorbild und lässt seine Protagonisten Schnäpse mit lebenden Goldfischen darin hinunterexen.
Einen ordentlichen Seitenhieb verteilt Euphoria auch an Ärzte und die Pharmalobby, die während der letzten beiden Dekaden für die steigende Übermedikamentierung von Kindern und Jugendlichen mit Psychopharmaka sowie den zunehmenden Off-Label-Use von Präparaten wie Prozac oder Ritalin verantwortlich waren.
Zum Opfer wird Rue bereits im Kindergartenalter, als ihr nach wiederholtem Fenster-Zählen prompt eine „zwanghafte Verhaltensstörung, eine Aufmerksamkeitsstörung und eine generalisierte Angststörung” diagnostiziert wird. Die Diagnose „bipolare Störung” steht selbstredend auch noch im Raum.
Doch bei weitem das dominanteste Thema in der Coming-of-Age-Serie: der jugendliche Körper mit all seinen nur erdenklichen, vermeintlichen Makeln („Sehen meine Vorhöfe komisch aus?”, „Ich hätte so gern dein Schlüsselbein!”). Es geht um Körperideale, illegal verbreitete Nacktbilder und Sexvideos im Netz, Kinderpornografie.
Rue verteidigt ihre Generation: „Wenn mal wieder Promis wie Jennifer Lawrence gehackt werden, macht die ganze Welt einen auf: ‚Wenn ihr das nicht wollt, dann dürft ihr keine Nacktfotos mehr machen.’ Ja, eure Generation hat sich auf Blumen und Papas Erlaubnis verlassen. Aber wir haben 2019 und wenn ihr keine Amish seid, sind Nacktfotos die Währung der Liebe.”
Wieviel Liebe ein Nacktfoto tatsächlich wert ist, das legt in Euphoria der beinahe schon karikaturesk angelegte, weiße und privilegierte All-American Football-Star Nate fest.
In einer minutenlangen Sequenz wird die Liste seiner rein visuellen Vorlieben (Thigh gaps, Ballerinas und Heels, Sandalen nur, wenn die Pediküre stimmt …) und Abneigungen (dicke Knöchel, Körperbehaarung, Mädchen, die sitzen wie Jungs) bis ins kleinste Detail abgearbeitet.
Es sind nur die Vorlieben, die er in der Öffentlichkeit vertritt. Auch hier spielt Euphoria gekonnt mit den genretypischen Erwartungen der Zuschauer und kehrt sie ins Gegenteil um. Fast jeder Figur bleibt Raum, um all die doppelmoralischen Ebenen ihrer Gesellschaft unterzubringen.
Prägnantestes Serien-Markenzeichen: Stylisch, düster, über Kopf
Fans mit einem Faible für einzigartiges Produktionsdesign, Szenenbild, Kostüm- und Sounddesign werden an Euphoria ihre wahre Freude haben. Im Zeichen des Titels gelingt der visuelle Rausch in surrealen Bildern, die Fremdheit und Faszination zugleich hervorrufen.
In temporeichen und enorm unterhaltsamen Montagen unterrichtet uns die Protagonistin über die Vergangenheit ihrer Mitschüler oder lässt sie in Gedanken ihre wildesten Fantasien durchspielen.
Die triste amerikanische Vorstadt wird vor allem des nachts zu einer wundersamen, in buntes Licht und coole Sounds getauchten Welt. Genau dann erzählt Rapper und Produzent Drake in mitreißenden Montagen, untermalt mit Songzeilen wie „Mount Everest ain’t got shit on me” von jugendlichem Übermut und vermeintlicher Unbesiegbarkeit.
Im Rausch laufen wir zusammen mit Rue die Wände hinauf und weinen glamouröse Glitter-Tränen. In anderen Momenten wälzt sie sich in ihrem eigenen Erbrochenen auf dem Boden oder bettelt um Stoff und wir wollen nicht hinsehen.
Es gibt nur wenige Serien, die so stark von Kontrasten leben. Viele sind schon daran gescheitert. Kaum einer ist es bisher so gut gelungen, sie zu meistern wie Euphoria.