Digital Life
Plädoyer für den Selfie-Stick
Immer häufiger sieht man Menschen, die einen Selfie-Stick zu Hilfe nehmen, um sich selbst zu fotografieren. Vor allem bei Touristen ist er ein beliebtes Accessoire. Im Schloss Versailles sind die künstlichen Armverlängerungen alles andere als gern gesehen.
Liebe Museumsbetreiber,
ich bin in einer Zeit groß geworden, in der – im Vergleich zu heute – Fotografien noch eine Rarität waren. In einer Zeit der Pocketkameras und der ewig vollen Farbfilme. Es war aber auch eine Zeit, in der man als einfacher Mensch, außer bei seinen persönlichen Bekannten, vollkommen unbekannt war. Und in den meisten Fällen auch blieb. Außer sein fußballerisches Können wurde zufällig auf einem staubigen Ascheplatz irgendwo in der Provinz von einem Talentsucher, der sich dort hin verirrt hatte, entdeckt. Oder er schrieb ein Buch, wurde Schauspieler oder sonst etwas in der Art. Wir normalen Menschen blieben indes unbemerkt und bemerkte uns doch jemand, wurden wir schnell wieder vergessen.
Selbstportraits gab es schon immer
Und ist es nicht eines unserer menschlichen Grundbedürfnisse, von anderen gekannt und im besten Fall anerkannt zu werden. Kein Mensch möchte vergessen werden. Bis heute kennt jeder Mensch das Gesicht und das berühmte Lächeln der Mona Lisa, auch wenn keiner weiß, wer das eigentlich war. Aber Maler haben nicht nur andere Menschen portraitiert. In allen Kunstepochen ist eine Vielzahl an Selbstportraits entstanden. Denkt doch nur mal an Van Gogh mit beziehungsweise ohne sein abgeschnittenes Ohr. Oder an Dürer, Rembrandt oder Gauguin. Niemand würde einem dieser Maler den Pinsel oder die Staffelei verwehren, die er benötigt, um seine Bilder zu malen. Und doch verbietet Ihr es den einfachen Leuten, die ihrem Bedürfnis folgen, sich selbst zu portraitieren, beim Fotografieren in Euren Museen einen Selfie-Stick zu benutzen.
Das Schloss Versailles sieht Selfie-Sticks nicht wirklich gerne
Ein Moment des sich Entdeckens
Vielleicht werdet Ihr sagen, dass das große Kunst war und dass es vermessen ist, die Werke solch großer Meister mit den Selfies eines Touristen zu vergleichen. Stimmt, das ist sie nicht. Aber das Selfie ist doch Ausdruck desselben Bedürfnisses, oder? Ich meine, warum fotografiert man sich ständig selbst mit dem eigenen Handy? Der französische Psychologe Jaques Lacan fand heraus, dass der Mensch von Natur aus ein gesteigertes Interesse daran hat, sich selbst zu betrachten. Das sieht man schon bei Kleinkindern, die mit Freude in den Spiegel schauen. Sie schauen sich aber nicht nur aus Spaß an der Freud im Spiegel an, sondern erleben so einen Moment des sich selbst Entdeckens, was wiederum zur Herausbildung ihres Egos, also ihrer Persönlichkeit, beiträgt.
Selbstportraits sind immer auch Selbstinszenierung
Soweit so gut. Aber bei Selfies geht es ja nicht nur darum, sich selbst anzuschauen. Da könnte man ja schließlich auch einfach in den Spiegel sehen und muss das Foto nicht extra bei Facebook, Instagram oder sonst wo hochladen. Auch das ist ganz einfach. Was dem Künstler seine Ausstellung oder Museum, ist dem Selfie-Macher sein soziales Netzwerk. Selbstportraitierung ist immer auch Selbstinszenierung. Mit einem Selfie können wir zeigen, an welchen tollen Orten wir sind, was für aufregende Dinge wir tun, wie grandios unser Leben ist. Wir erschaffen uns unser ideales Ich und heimsen Bewunderung und gesellschaftliche Anerkennung dafür ein.
Selfie-Sticks tun Gutes
Aber zurück zum Selfie-Stick, denn den habt Ihr ja schließlich verboten und nicht das Fotografieren an sich. Wenn man Selfies nun einmal aus dieser anderen Perspektive betrachtet, dann ist ein solcher Stick doch ein nettes Hilfsmittel, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Bedürfnisse, für die Ihr ganz sicher Verständnis habt. Und mal ganz im Ernst, welches große Risiko soll ein Selfie-Stick schon darstellen?
Ganz abgesehen davon, dass der Stick dabei hilft, bessere Fotos zu schießen, trägt er im Übrigen auch zur Senkung der Kriminalitätsrate bei. Wer kennt nicht die Szene aus zig Filmen, in der ein Touristenpaar sich fotografieren lassen möchte und dazu einen unbekannten Passanten fragt. Oder das mulmige Gefühl, wenn man seine Kamera oder sein neues Smartphone in fremde Hände gibt, um sich ablichten zu lassen, und nicht weiß, ob der Fotografierende gleich damit wegläuft. Mit dem Selfie-Stick ist auch das kein Problem mehr. Eine Sorge und viele Diebstähle weniger. Das ist doch ein Argument! Also, was meint Ihr, wollt Ihr das nicht doch noch einmal überdenken?
Foto: iStock Photo